Forschungsprofil

Ethik ist die „Theorie menschlicher Lebensführung“, so hat der Nestor der deutschsprachigen evangelischen Ethik im 20. Jahrhundert, Trutz Rendtorff, das Fach einmal präzise umschrieben. Ethik im Rahmen der Systematischen Theologie stellt demnach die Fragen nach dem guten, gerechten und gelingenden Leben im Horizont der christlichen Glaubenstradition, ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart. Zentral hierfür ist der Begriff der Verantwortung, der nicht nur auf den Menschen als dem personalen Subjekt der Ethik rekurriert, sondern ihn zudem in ein Geflecht von intersubjektiven, institutionellen und – im Falle des Christentums auch – religiösen Bezügen stellt.

Dabei stehen im Falle der Ethik Gegenwartsfragen im Mittelpunkt: Probleme, wie sie sich im Umfeld der Lebenswissenschaften stellen; Strukturfragen von Ökonomie und Technik, die auf eine humane Gestaltung drängen; aber auch das Nachsinnen über die Prozeduren und die Werthaltungen, die in zunehmend multi-religiösen und -kulturellen Gesellschaften ein demokratisches Miteinander befördern und stützen. Mehr denn je ist somit eine wechselseitige Kooperation von religiös grundierten und mehr säkular orientierten Ethiken von Nöten. Beides hat zur Voraussetzung, dass die eigene Tradition und ihre Quellen gekannt und konstruktiv für die Gegenwart fort- und weitergeschrieben werden können – zumal nach wie vor Kirchen und konkret die Gemeinden und ihre Geistlichen vor Ort als Instanzen der Orientierung, noch im Modus der Kritik, gelten dürfen.
Theologische Ethik nimmt so den „Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums“ (Alfred de Quervain) ernst, indem sie kritisch wie konstruktiv die Impulse christlicher Lebensführungspraxen in den Dialog der Wissenschaften, der Zivilgesellschaft, aber auch von Politik und Kirche einbringt. In Göttingen hat dies gute Tradition. Die Namen und Werke von Ernst Wolf (1902–1971), Wolfgang Trillhaas (1903–1995) und Dietz Lange (*1933) stehen stellvertretend für eine ethische Theorie- und Denktradition, die Reformation und Aufklärung miteinander zu verbinden wusste.

Das Forschungsprofil des Lehrstuhls stellt sich bewusst in diese Tradition, aber mit durchaus eigenständigem Anspruch. Ein zentrales Anliegen in den nächsten Jahren soll die konzeptionelle und empirische Beschäftigung mit Fragen der Bildungsethik bilden. Unter Einbeziehung der religions- und sozialphilosophischen Ansätze des amerikanischen Pragmatismus (James, Royce, Dewey, Putnam) geht es darum, die ethischen Werthaltungen zu rekonstruieren und kritisch zu hinterfragen, die den Bildungs- und Erziehungspraxen einerseits und den institutionellen Settings andererseits inhärieren. Leitgedanke ist dabei die Idee der Demokratie als einer –andere Lebensformen nicht negierende, sondern im Sinne der Pluralismusoffenheit strukturierende – umfassenden Lebensform, die dem Geiste des Christentums in ihren zentralen Anliegen nicht nur entspricht, sondern durch ihn auch vertieft werden kann. Die Schulen können dabei als diejenigen Institutionen und Orte par excellence gelten, die unsere künftigen Gesellschaften (samt ihrer Probleme) gleichsam im „embryonalen Zustand“ (Dewey) widerspiegeln. Als experimentelle Lehr- und Lerngemeinschaften stehen sie dabei für Gelingen oder Misslingen demokratischer Ethoshaltungen (Einstellungen) ein. Insofern wird die Arbeit an einer Bildungsethik zugleich zum Unterfangen einer zeitgemäßen Rekonstruktion und Neuorientierung von Sozialethik an sich.

Ein anderer Schwerpunkt, der im Anschluss an die vielfältige Mitwirkung von Reiner Anselm (Lehrstuhlinhaber bis 2014, jetzt: LMU München) weiter gepflegt werden soll, ist die Mitarbeit an medizin- und bioethischen Fragen. Der Lehrstuhl ist institutionell und personell mit dem interfakultären Zentrum für Medizinrecht unserer Universität verbunden. Anders als ähnliche Einrichtungen an anderen Standorten in Deutschland liegt dabei ein Schwerpunkt auf professionsethischen und -rechtlichen Fragestellungen, wie sie sich unmittelbar aus und im klinischen Alltag ergeben.