nin-me-šara - Der Rechtsfall der En-ḫedu-ana


Die frühesten literarischen Zeugnisse, wie sie aus dem Alten Orient überliefert sind, offenbaren uns ihre Autoren zumeist nicht. Um so bemerkenswert ist ein Text, der uns in das 23 Jh.v.Chr. entführt und dessen Autorin namentlich genannt ist. Dieser Name lautet "En-hedu-Ana" und bedeutet soviel wie "Hohepriester(in), Zierde des Himmels(gottes) An". Diese En-hedu-Ana ist aus verschiedenen Quellen, z.B. auch aus Inschriften ihres Verwalters, ihres Schreibers oder ihres Friseurs historisch gut bezeugt. Sie bezeichnete sich als Königstochter, Kind des berühmten Dynastiegründers Sargon von Akkade, fungierte als höchste religiöse Autorität in ihrer Zeit, als En-Priesterin oder "Hohepriesterin" und galt in dieser Funktion zugleich im Ritual als Gemahlin des Mondgottes Nanna. Mehrere literarische Werke sind mit ihrem Namen verbunden.

Besonders eindringlich erfahren wir von En-hedu-Ana und ihrem Schicksal in diesem Text, der mit den Worten "Herrin der unzähligen göttlichen Kräfte", sumerisch "nin me šara", beginnt. Es ist ein Lied, welches die Priesterin an Inana richtet, eine Göttin, die u.a. in den erschütternden Gewalten von Fruchtbarkeit, Liebe und Krieg erfahren wurde. Der Text spricht aus einer dramatischen Krisensituation heraus. Eine bedrohliche Revolte beherrscht Stadt und Land. En-hedu-Ana als Angehörige des herrschenden Königshauses und Anhängerin von dessen Schutzgöttin Inana ist ihres Amtes enthoben und wird in Schimpf und Schande von Tempel und Stadt verjagt. In dieser scheinbar ausweglosen Situation entsteht der Text, bei dem es sich wie sie selbst sagt, um ein „schicksalsbestimmendes Lied“ handelt, das die Götter zum Handeln drängen will. Die Göttin Inana soll die bedrohlichen Revolten innerhalb der Stadt und innerhalb des ganzen Landes niederschlagen.