ausführliche Darstellung . . .
- Der "religionsgeschichtliche Ansatz" oder: das "Programm" der "Religionsgeschichtlichen Schule"
Hermann Gunkel beschrieb 1903 das "Programm der Religionsgeschichtler" allgemein:
"Die 'religionsgeschichtliche' Forschung will mit der Erkenntnis vollen Ernst machen, daß die Religion, auch die b i b l i s c h e Religion, wie alles Menschliche ihre G e s c h i c h t e hat. Das Leben der Menschheit ist Geschichte, d.h. es ist ein ungeheures Lebendiges, ein großes Ganzes, ein gewaltiger Zusammenhang, in dem alles Frucht ist und alles Samen. Und in diese viel umschlungene Kette von Ursache und Wirkung gehört auch die Religion mitten hinein. Nur aus diesem Zusammenhang kann sie verstanden werden. Die religionsgeschichtliche Betrachtung [...] besteht also in dem beständigen Aufachten auf den geschichtlichen Zusammenhang jeder einzelnen religiösen Erscheinung; wir fragen immer wieder: warum ist sie gerade an d i e s e m Punkt der Geschichte entstanden und an keinem andern? was mußte vorausgehen, daß sie so werden konnte, wie sie vorliegt? wie pflegen überhaupt solche Erscheinungen zu werden? [...] Und keine Rede davon, daß diese religionsgeschichtliche Betrachtung da zu verstummen hätte, wo der einzelne große Mensch von seinem persönlichen Leben redet. Im Gegenteil, dies gerade ist unsere schönste Aufgabe, jenes persönliche Leben, das wir nachfühlend in uns wiederholen, als wäre es unser eigenes, im Zusammenhange der großen Geschichte zu sehen: Ein Wassertropfen, die Sonne widerspiegelnd! Diese gewaltigen Personen zu belauschen, zu erkennen, wie auch sie geworden sind nach der geheimnisvollen Ordnung Gottes, die alles zusammenhält und in allem Mannigfaltigen immer dieselbe ist, dies wahre, intime, geschichtliche Verständnis der großen Personen der Religionen, das ist die K r o n e d e r 'R e l i g i o n s g e s c h i c h t e'."
(Hermann Gunkel, Rezension von Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte, in: DLZ 25 [1904], Sp. 1100-1110, hier Sp. 1109f; Hervorhebungen im Original.)
Alf Özen, 1996
- Die Keimzelle der "Religionsgeschichtlichen Schule" in Göttingen um Albert Eichhorn (1884-1888)
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Als Impulsgeber der Entwicklung zur "Religionsgeschichtlichen Schule" wird allgemein Albert Eichhorn (1856-1926) angesehen. Während seiner Göttinger Vorbereitungszeit auf die Habilitation (1884-1886) sammelte sich um ihn ein Kreis junger Theologen, zu dem die angehenden Lizentiaten Wilhelm Bornemann, Karl Mirbt und William Wrede, aber auch bereits die Studenten Hermann Gunkel, Heinrich Hackmann, Alfred Rahlfs und Johannes Weiß zählten. In steter Diskussion wurden hier Ansätze entwickelt, die nach Eichhorns Umzug nach Halle (1886) zunächst zur Bildung der sogenannten "kleinen Göttinger Fakultät" führten und sich später, in weiterentwickelter und modifizierter Form, zur "Religionsgeschichtlichen Schule" verfestigten.
Der "Eichhorn-Kreis" entwickelte erste eigenständige Gedanken zur wissenschaftlichen Erforschung des frühen Christentums, die in den folgenden Jahren zu radikaler historischer Beschäftigung mit neutestamentlichen und urchristlichen Texten führte. Dabei ging es zunächst um Untersuchungen zum Judentum der Zeitenwende und dessen Einfluß auf das entstehende Christentum.
Schon früh regte sich durch die Beobachtung tiefer Gegensätze zwischen christlicher Religion und moderner Kultur Kritik an Ritschls harmonistischer Synthese von Luthertum und bürgerlichem Fortschrittsglauben. Um die christliche Religiosität von ihren Anfängen her verstehen zu können, wurde eine Beschäftigung mit dem frühen Christentum in seinem historischen Entstehen und Wachsen als notwendig erachtet. Ausgangspunkt für Eichhorns Überlegungen war dabei sein Geschichtsverständnis, das er im Lebenslauf vom 12. März 1886, den er mit seiner Bewerbung "betr. Licentiatenexamen und Habilitation" in Halle einreichte, näher darlegte:
"Um noch ganz kurz das Interesse zu bezeichnen, welches mich bei kirchenhistorischen Untersuchungen leitet, so bemerke ich, daß die unbedeutenderen Parteien der Geschichte mich besonders anziehen. Es scheint mir wichtig zu sein, nicht nur die Ideen der vorzüglichsten Männer jener Periode kennen zu lernen, sondern auch die von ihnen ausgegangenen Wirkungen. Die Höhen der Geschichte erglänzen im Licht, aber ohne die tausendfachen Abschattungen an den Abhängen und in den Tälern würde der Anblick ohne Reiz sein. [...] Die Geschichte soll die Aufgaben der Gegenwart erkennen lehren. Dies ist nur möglich, wenn der Historiker die Mannigfaltigkeit der bewegenden Kräfte ebenso wie den Widerstand der zu bewegenden Massen zur Anschauung zu bringen versteht."
[Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Sein "Lebenslauf", seine Thesen 1886, seine Abendmahlsthese 1898 und seine Leidensbriefe an seinen Schüler Erich Franz (1913/1919) nebst seinen Bekenntnissen über Heilige Geschichte und Evangelium, über Orthodoxie und Liberalismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.-Sprachwi. Reihe IX/1, Halle 1960, S. 141-152, hier S. 142.]
Eichhorns Kritik an Ritschls Geschichtsverständnis wird in seinen Lizentiatenthesen desselben Jahres deutlich:
"Für alle historische Einzeluntersuchung muß der Grundsatz gelten, niemals einzelne Fragen, sondern stets von vornherein das ganze Gebiet, dem die einzelne Frage angehört, in Angriff zu nehmen. [...]"
[These 14, a.a.O., S. 144.]
Dies war u.a. ein Angriff auf die von Ritschl geübte Praxis, den Kanon von Altem und Neuem Testament isoliert von seiner Umwelt zu betrachten und das Neue Testament lediglich vom Alten her zu verstehen. Konsequenterweise fordert Eichhorn dann auch:
"Die N [eu] t [estament] l. [iche] Einleitung muß urchristliche Literaturgeschichte sein."
[These 3, ebd.]
Das Interesse des "Eichhorn-Kreises" beschränkte sich nun nicht mehr allein auf biblische Aussagen - zeitgleich entstandene urchristliche Zeugnisse wurden unter die zu untersuchenden Schriften aufgenommen. Getreu der Überzeugung, daß Texte vor ihrer Niederschrift eine oft lange Stoffgeschichte durchliefen, begann man, nicht in erster Linie Texte in ihrer Endgestalt, sondern die Herkunft der in ihnen verarbeiteten Traditionen zu erforschen. Doch Bibel und Christentum sollten nicht länger losgelöst von profangeschichtlichen Entwicklungen, sondern als in einen universalen geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gehörig gesehen werden. Auch dies wurde schon von Eichhorn in seinen Lizentiatenthesen gefordert:
"Die religiöse Betrachtung der Kirchengeschichte muß sich auf die geschichtliche Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts beziehen."
[These 18, ebd.]
Diese drei Thesen Eichhorns können geradezu als Programm für den Theologenkreis gelten, der 1890 die "kleine Göttinger Fakultät" und ab 1898/1903 die "Religionsgeschichtliche Schule" bilden sollte.
Die kompromißlose, keinen dogmatischen Zwängen unterworfene Beschäftigung mit ntl. bzw. urchristl. Texten in streng historischem Geist brachte den späteren "Religionsgeschichtlern" schon früh den Vorwurf des Radikalismus ein.
Die erste Publikation in diesem neuen, "religionsgeschichtlichen" Sinn war Hermann Gunkels "Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus" (Göttingen 1888).
Alf Özen, 1996
- Die theologischen Väter in Göttingen
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Ein Hauptgrund für Studenten, sich während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts in Göttingen für das Fach der evangelischen Theologie einzuschreiben, war die Vorlesungstätigkeit von Albrecht Ritschl (1822-1889). Dieser war ein ausgesprochener Feind aller pietistischen Erbaulichkeit. Kirchliche Gruppen und alles, was nach Partei roch, die kirchliche Orthodoxie, bes. die konfessionell-lutherische, waren ihm zuwider. So wurde Ritschl nicht zuletzt bei der recht konservativ ausgerichteten Hannoverschen Landeskirche trotz seines Lehrerfolgs mit Mißtrauen betrachtet und war des öfteren Angriffen ausgesetzt. Z.B. hatte auf der Landessynode des Jahres 1881 Pastor Frank "die R i t s c h l sche Schule, die auf der Landesuniversität herrschte, an [gegriffen] , weil sie in wesentlichen Punkten vom Bekenntnis abweiche und an den Grundlagen des Glaubens rüttele" (Friedrich Uhlhorn, Gerhard Uhlhorn. Abt zu Loccum. Ein Lebensbild, Stuttgart 1903, S. 213; Hervorhebung im Original)
Die Spannungen zwischen Ritschl und der Landeskirche führten einerseits dazu, daß "viele angehende Theologen, die in der Regel Söhne von streng lutherischen Pfarrern waren, in diesen Jahren die eindeutiger orthodox lutherisch geprägten Universitäten in Erlangen und Leipzig" [Nittert Janssen, Theologie fürs Volk. Eine Untersuchung über den Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule auf die Popularisierung der theologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Liberalismus in der lutherischen Landeskirche Hannovers, Göttingen 1993, S. 15] . besuchten. Andererseits bot dieser "Boykott" die Möglichkeit, in Göttingen in recht liberaler Atmosphäre theologische Studien treiben zu können.
Ritschl begründete seine dogmatischen Überlegungen aus seinem Geschichtsverständnis heraus. Für ihn war das Allgemeine aus dem Besonderen abzuleiten: "[...] das Empirische ist das Eigentliche, die Texte, wie sie dastehen, die Fakten, die Menschen vermitteln die Wirklichkeit, an der sich Ideen zu erweisen haben, sofern sie in ihr liegen" [Trillhaas, S. 119] .
Neu war Ritschls Hervorhebung der Gemeinde als Entstehungsort neutestamentlicher Texte, ein Punkt, der später von der "Religionsgeschichtlichen Schule" intensiv untersucht wurde. Doch Ritschls Aufmerksamkeit galt besonders den biblischen Texten in ihrer Endgestalt; ein Interesse an den das Urchristentum betreffenden historisch-kritischen Fragen hatte er in seiner Göttinger Zeit nicht mehr. So fand bei Ritschl eine Harmonisierung der neutestamentlichen Probleme statt; die Gegensätze begannen sich zu glätten und auszugleichen. "Fragen wie die nach der Glaubwürdigkeit der Evangelien, nach dem Verhältnis von Jesus und Paulus bedeuten keinen Unruheherd, und noch bis in den 'Unterricht in der christlichen Religion' (1875) fällt auf, wie unkritisch der doch sonst so kritische Mann bei der Führung des Schriftbeweises verfährt" [Ebd.] .
Ritschl war bestrebt, aus der Bibel allgemeingültige Normen für das religiöse Leben der Gegenwart und dessen "Sittlichkeit" aufzustellen. So war seine Exegese immer gleichzeitig dogmatisch gebunden. Durch die nicht geschehene historisch präzise Klärung der neutestamentlichen Begrifflichkeit war der Weg offen "für die Umdeutung und Modernisierung vieler Begriffe in Ritschls Sinne, vor allem zur Umdeutung des 'Reiches Gottes' im innerweltlichen Sinne und zur neutestamentlichen Sanktionierung der Grundbegriffe der bürgerlichen Ethik" [Ebd. Zu Ethik und Theologie Ritschls vgl.: Joachim Ringleben (Hrsg.), Gottes Reich und menschliche Freiheit, Ritschl-Kolloquium (Göttingen 1989), GTA 46, Göttingen 1990] .
Beide Stichworte, "Geschichtsverständnis" und "Reich-Gottes-Begriff", wurden letztlich zu Kritikpunkten, an denen sich später die "Religionsgeschichtler" von Ritschl emanzipierten. Schon der Eichhorn-Kreis forderte die unbedingte Freiheit der Forschung von jeder dogmatischen Beschränkung, ohne Konzessionen an die herrschende Kirchenlehre.
Aber noch an einem anderen Punkt begann der Eichhorn-Kreis (und insbesondere später die "kleine Göttinger Fakultät"), sich von Ritschl abzugrenzen. Denn dieser betonte in seinem Harmonisierungsbestreben auch eine direkte Abfolge von Altem und Neuem Testament, ohne jegliche Spannungen und Brüche. Es sollte später das Verdienst von Hermann Gunkel und bes. Wilhelm Bousset sein, diese Sichtweise durch ihre "Entdeckung des Spätjudentums", oder besser: des intertestamentarischen Judentums, zu widerlegen:
"Wer noch persönlich in ALBRECHT RITSCHLs Schule gelernt hat, weiss sich zu erinnern, mit welcher Energie wir damals auf den Zusammenhang der neutestamentlichen Literatur mit dem alten Testament hingewiesen wurden. In diesem Hinweis war entschieden eine grosse Wahrheit enthalten, aber eine grosse Einseitigkeit. Allmählich lernten wir dann erkennen, wie zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Zeit und Literatur kein leerer Raum sich befindet, den man einfach überspringen, sondern daß hier eine höchst folgenschwere Entwickelung der Religion stattgefunden habe, ohne deren Kenntnis und Verständnis man die Literatur des Neuen Testaments nicht verstehen könne."
(Wilhelm Bousset, Die Religionsgeschichte und das Neue Testament, in: ThR 6 [1904], S. 265-277, hier S. 267f; Hervorhebung im Original.)
Für die Voraussetzung von religionsgeschichtlicher Arbeit war Ritschls enge Zusammenrückung von alt- und neutestamentlichen Texten jedoch von Bedeutung. Denn im Bereich des Alten Testaments gab es religionsgeschichtliche Forschung schon seit längerem. Durch Ritschls Verknüpfung von Altem und Neuem Testament war jetzt der Weg frei geworden, die Methoden der alttestamentlichen Forschung auf das Neue Testament auszudehnen bzw. zu übertragen.
Auch im Göttingen der 80er Jahre wurde bereits religionsgeschichtliche Forschung zur Erklärung alttestamentlicher Phänomene betrieben. So erwähnt Ernst Troeltsch später im Rückblick auf die Anfangsjahre der "Religionsgeschichtlichen Schule" als deren Lehrer noch den Alttestamentler Bernhard Duhm (1847-1928), der seit 1877 als Extraordinarius in Göttingen wirkte, sowie den Professor für Orientalistik Paul Anton de Lagarde (1827-1891):
"Beide haben uns nun ihrerseits in die Religionsgeschichte hineingetrieben und brachten uns zu einem immer gründlicheren Bruche mit Ritschls Auffassung der Bibel. Von Ritschl blieb Systematik, Strenge des Charaktereinflusses und Liebe zu den reformatorischen Quellenschriften."
[Ernst Troeltsch, Die "kleine Göttinger Fakultät" von 1890, in: ChW 34 (1920), Sp. 281-283, hier Sp. 282; wieder abgedruckt in: Lüdemann/Schröder, S. 22f.]
Bernhard Duhm begann bereits während seiner ersten Jahre als Privatdozent, die Entwicklung der alttestamentlichen Religion anhand einer umfassenden Erforschung der Prophetie darzulegen. Bereits in seinem Frühwerk "Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion" (Bonn 1875) bemühte er sich, "aus den individuellen und geschichtlichen Aspekten jeder einzelnen Prophetie des Alten Testaments eine zusammenhängende Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion zu gewinnen" [Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 31982, S. 276] .
Dabei versuchte Duhm bewußt, auf jegliches theologische oder religionsgeschichtliche Vorverständnis zu verzichten. Unter "Aufgebung selbst berechtigter und bewährter Voraussetzungen" wollte Duhm "den Gegenstand für sich selbst reden [...] lassen" [Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875, S. 2. Ob eine voraussetzungslose Beschäftigung mit der Geschichte bzw. Theologie überhaupt möglich ist, muß allerdings stark bezweifelt werden] . So wies er eine heilsgeschichtliche Abfolge vom Alten zum Neuen Testament ausdrücklich zurück, da diese Voraussetzungen einführe, die über die Feststellung eines historischen Zusammenhangs hinausgingen:
"Das wissenschaftliche, ideelle Interesse des christlichen Theologen am alten Testament ist genügend so ausgesprochen wie motivirt durch die Anerkennung des historischen Zusammenhangs zwischen der israelitischen und der christlichen Religion und der Zweck alttestamentlicher Arbeit vollkommen umgrenzt durch die Aufhellung dieses Zusammenhangs zu Gunsten besserer Erkenntnis des Christenthums. Jeder materielle Zusatz über das Wie und Warum, der vor der Befragung des Stoffes selbst jenes Interesse stärkt oder schwächt und diesen Zweck verkürzt, ist Vorurtheil und führt zur Tendenz. In diesem Fall aber ist nicht allein der wissenschaftliche Character dahin, sondern auch der theologische verfälscht [...]."
[Ebd.]
Dieser rein historische Forschungsansatz gipfelte in Duhms ebenso kurzem wie prägnanten Religionsbegriff, der von den "Religionsgeschichtlern" voll akzeptiert wurde: RELIGION IST GESCHICHTE. [Vgl. hierzu unbedingt: Carl Albrecht Bernoulli, Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode in der Theologie. Ein encyklopädischer Versuch, Freiburg/Leipzig/ Tübingen 1897, speziell 4. Das Wesen der wissenschaftlichen Theologie, S. 86-107.]
Ebenso übernahmen die "Religionsgeschichtler" Duhms Wissenschaftsverständnis: "Eine wissenschaftliche, d.h. sachgemäße Forschung läßt sich bloss von der Sache leiten, die ist aber weder konservativ noch liberal. [...] Von dem wissenschaftlichen Theologen soll man kein Eintreten für die konservative oder liberale Sache verlangen, denn man würdigt dadurch sowohl die Wissenschaft als die Religion herab, die erstere, weil man ihr unsolide Ausbeutung von unsicheren Werten zumutet, die letztere, weil man sie von menschlichen Erkenntnissen und Agitationen abhängig glaubt" [Bernhard Duhm, Über Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft. Antrittsvorlesung in der Aula der Universität zu Basel am 7. Mai 1889, Basel 1889, S. 24f].
Die Vorliebe der "Religionsgeschichtler" für Paul Anton de Lagarde, einem massiven Kritiker Ritschls, der "den Gedanken der Entwicklungsgeschichte der Religion von allen dogmatischen und metaphysischen Verwertungen losgerissen und ein unbefangenes, an das Objekt sich hingebendes, mit allen Mitteln gewissenhafter Forschung betriebenes Studium der Religionsgeschichte" [Troeltsch, S. 59] verlangte, wird schon äußerlich ersichtlich aus der Tatsache, daß Eichhorn, Gunkel, Hackmann, Otto und Rahlfs dessen Vorlesungen besuchten, obwohl er im allgemeinen nur sehr wenige Hörer hatte.
De Lagarde war neben seiner Fachkenntnis der Orientalistik auch Kenner des griechischen Alten Testaments. Seine Lebensaufgabe fand er darin, den Ursprungstext der Septuaginta zu rekonstruieren - diese Aufgabe vollendete nach de Lagardes Tod dessen Schüler und Mitglied der "kleinen Göttinger Fakultät", Alfred Rahlfs -, gemäß der Überzeugung, daß die Rekonstruktion der Urgestalt der biblischen Texte eine unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung der wahren christlichen Religion sei [Vgl. aber zur Problematik dieser vereinfachenden Reduktion unbedingt: Hanhart, S. 285ff] . "Sein Ziel, das ewig mit dem Namen Lagarde verbunden sein soll, ist die Bewahrung der Überlieferung als Grund der Verifizierung und der Erfahrung der Geschichte" [A.a.O., S. 285.] .
Doch auch von de Lagarde emanzipierten sich die "Religionsgeschichtler", nämlich in ihrer anderen Bestimmung des Wesens von Geschichte in ihrem Verhältnis zur Religion. Während jener aus seinen Forschungen "die Forderung einer nationalen Bestimmung und Differenzierung der christlichen Religion und ihre visionäre Konzeption als 'Religion der Zukunft'" [A.a.O., S. 301] ableitete, so stand für diese die Entstehungszeit des Christentums, "der Vergleich analoger Phänomene in verschiedenen Religionen und die Frage nach Vorstellungen fremder Religionen, die in die israelitisch-jüdisch-christliche Überlieferung Eingang gefunden haben" [A.a.O., S. 300f.] , im Mittelpunkt ihres Interesses [Ebd. Vgl. zum Theologieverständnis de Lagardes bes.: Bernoulli, S. 86-107] .
Neben Ritschl, de Lagarde und Duhm gelten noch andere in Göttingen wirkende Personen als wissenschaftliche Lehrer der angehenden "Religionsgeschichtler": der Alttestamentler und Systematiker Hermann Schultz (1836-1903), der Kirchengeschichtler Hermann Reuter (1817-1889) - als dessen Schüler besonders Karl Mirbt gelten kann - und der Philosoph Hermann Lotze (1817-1881), bei dem Eichhorn 1877/78 noch studiert hatte:
"Von allen Vorlesungen hat nur eine einzige auf meine theologische Richtung entscheidenen Einfluß gewonnen: die Vorlesung über ATl. Theologie von Hermann Schultz. Historische Methode habe ich von Reuter gelernt. Mehr als den Genannten verdanke ich Lotze. Seine Weltanschauung ist die meinige."
[Lebenslauf Eichhorns. Abgedruckt bei: Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1960, S. 141-152, hier S. 141.]
Speziell über Reuter hatte sich Eichhorn bereits in seinem Loccumer Lebenslauf von 1882 sehr positiv geäußerte:
"In Göttingen [...] zog mich Reuter sehr an durch seine vorzügliche Methode, welche mich zum Quellenstudium mit Vorliebe erfüllte und mir starkes Mißtrauen gegen historische Darstellungen, welche ich nicht selbst zu controllieren vermag, eingeflößt hat."
[Lebenslauf Eichhorns (ebd.). Die Passage ist abgedruckt bei Lüdemann/Schröder, S. 31.]
Daher legten Eichhorn - und generell alle "Religionsgeschichtler" - besonderen Wert auf ein intensives Quellenstudium. Doch nicht allein Text- und Literarkritik zum Zwecke der Herstellung eines von allen Zusätzen gereinigten Grundtextes war ihnen wichtig (wie es die Verteter der historisch-kritischen Methode im allgemeinen und de Lagarde im besonderen lehrten). Diese Methoden waren ihnen lediglich Voraussetzung für ihr eigentliches Ziel: der hinter die Traditionen bzw. Überlieferungen zurückführenden Erforschung der historischen Zusammenhänge, die der Bildung von Überlieferungen und Traditionen immer vorangingen. Auch an dieser Stelle rückte der (antike) Mensch mit seiner gesamten Glaubenswelt in den Brennpunkt ihres Interesses.
Für ein solches Vorhaben waren jedoch noch präzisere und umfassendere philologische Kenntnisse erforderlich, als ohnehin schon von der historisch-kritischen Theologie der Zeit verlangt. Aus dieser Notwendigkeit heraus ist es zu erklären, daß für alle Religionsgeschichtler das Studium der Altphilologie einen besonderen Stellenwert einnahm. Ihr Leben lang standen sie in regem Austausch mit Altphilologen wie z.B. Hermann Usener, Albert Dieterich, Johannes Geffcken, Eduard Norden, Richard Reitzenstein, Paul Wendland.
An der Göttinger Universität lehrte seit 1883 der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848-1931), der bereits in jungen Jahren den Ruf eines revolutionären Neuerers der Altertumskunde erworben hatte [Wilamowitz war ein Schüler des in Bonn lehrenden Altphilologen Hermann Usener. Dieser hatte selbst Schriften zur Religionsgeschichte verfaßt (z.B. Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Bonn 1889) und war maßgeblich an der Bildung eines (eigenständigen) "religionsgeschichtlichen Kreises" in Bonn beteiligt. Wichtig wurde Useners These, daß sich unter gleichen seelischen Bedingungen bei verschiedenen völlig voneinander getrennten Völkern gleiche Vorstellungen entwickeln würden] . Im Sommersemester 1885 hörten Eichhorn, Gunkel und Wrede bei diesem die Vorlesung "Geschichte der griechischen Literatur von Alexander bis auf Augustus". Auch Heitmüller besuchte später dessen Veranstaltungen. Besonders die von Wilamowitz propagierte "Idee einer Altertumskunde, die nicht wie bis dahin üblich nur die Philologien, sondern gleichwertig auch die alte Geschichte, Archäologie und diverse Hilfswissenschaften umfaßte und zu einem Ganzen integrieren wollte [...] [, sowie] die gleichmäßige und gleichwertige Behandlung der nachklassischen griechischen Geschichte, Kultur und Literatur" [Lüdemann/Schröder, S. 36] übernahm der "Eichhorn-Kreis". Von diesem Ansatz aus wird auch dessen anfängliche Vorliebe für die Behandlung nichtkanonischer Schriften und die Konzeption einer integrierten Religionsgeschichte verständlich.
Gleichzeitig wuchs mit der Behandlung außerkanonischer bzw. nicht-theologischer Quellen das Interesse an der antiken (jüdischen) Geschichte und Kultur stark an.
Vor allem Julius Wellhausen (1844-1918), der Nachfolger des 1891 verstorbenen de Lagardes in Göttingern, muß deshalb zu den Lehrern der "Religionsgeschichtler" gezählt werden. Seine streng historische Methode der Erarbeitung eines Problemgebiets wurde von diesen hoch geschätzt:
"In rastloser Arbeit und Schwerarbeit sein konkretes und einzelnes Forschungsgebiet ergreifend, vom festen Punkte aus methodisch weiterschreitend, in konzentrischen Kreisen das eigene Objekt erweiternd, und mehr schweigend als redend, fast scheu und von ferne es beziehend auf letzte und höchste Idee, so steht er vor uns als ein klassischer Typus modernen Akademikers."
[Rudolf Otto, Sinn und Aufgabe moderner Universität, Marburg 1927, S. 16.]
Besonders sein auf sorgfältiger Quellenkritik basierendes Werk "Israelitische und jüdische Geschichte" (Berlin 1894) übte großen Einfluß auf die "Religionsgeschichtler" aus. "Sein Zauberstab brachte [...] die Texte zum Reden und ließ fernes und fremdes Leben in seiner Buntheit und oft Wildheit wieder erstehen [...]" [Rudolf Smend, Wellhausen in Göttingen, in: Moeller, S. 306-324, hier S. 320] .
Den Vergleich von Religionen dagegen verabscheute Wellhausen - er vermochte in der Erforschung der Entwicklung und Geschichte von Stoffen und Traditionen lediglich ein 'antiquarisches Interesse' zu erkennen - und so lehnte er die Rolle eines "Vaters der Religionsgeschichtlichen Schule" trotz des ihm von dieser entgegengebrachten Respekts zeitlebens vehement ab.
Alf Özen, 1996
- Der akademisch-theologische Verein in Göttingen
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Zwar entwickelte der "Eichhorn-Kreis" seine neuartigen Ideen in ständiger Auseinandersetzung mit seinen theologischen Lehrern. Doch fand diese nicht nur in den Hörsälen statt. Hier keimten lediglich erste Ideen auf, die im gemeinsamen Kreis der Freunde außerhalb der Vorlesungsverpflichtungen diskutiert und weiterentwickelt werden mußten.
"Freilich wird es manchem Studenten sehr schwer, mit dem, was unfertig und unklar in seinem Innern vorgeht, seinen akademischen Lehrern sich zu erschließen. Viel leichter geht er im Kreise der Kommilitonen aus sich heraus. Daher stellt sich überall das Bedürfnis ein, daß sich die Studierenden untereinander in fachwissenschaftlichen Vereinen zusammenschließen. An unsern theologischen Fakultäten gibt es daher überall besondere theologische Vereine, häufig ihrer mehrere nebeneinander an derselben Universität."
[D.G. Kawerau: "Evangelisch-theologische Fakultät", in: W. Lexis (Hrsg.): Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, 1. Band: Die Universitäten im Deutschen Reich, Berlin 1904, S. 61-76, hier S. 70 (ausführlich abgedruckt in Lüdemann/Schröde, S. 41).]
Somit kommt neben den universitären Aktivitäten der "Religionsgeschichtler" ihren außeruniversitären Beziehungen eine große Bedeutung zu. Hier gab es durchaus genügend Möglichkeiten, die interessierte Studenten zur Entwicklung oder Festigung von eigenen theologischen Positionen nutzen konnten.
1878 hatte sich "im studentischen Rahmen an der Universität Göttingen neben den vielen bereits vorhandenen studentischen Verbindungen ein zunächst nur auf Theologen bezogener 'akademisch-theologischer Verein' konstituiert" [vgl. Nittert Janssen, Theologie fürs Volk. Eine Untersuchung über den Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule auf die Popularisierung der theologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Liberalismus in der lutherischen Landeskirche Hannovers, Göttingen 1993, S. 16] , an dessen Gründung auch William Wrede und Wilhelm Bornemann beteiligt waren. Sein Ziel war "eine Gemeinschaft Theologie Studierender mit dem Zwecke gemeinsamer theologischer Ausbildung und der Pflege freundschaftlichen Verkehrs" [Paragraph 1 der Statuten (Universitätsarchiv Göttingen, Sekretariatsakten X G 2, 693 [97])] . Man traf sich zu wöchentlichen Zusammenkünften, in denen jeweils ein Mitglied ein Referat zu ausgesuchten Themen vortrug. Es war üblich, daß sich an diese Vorträge längere Diskussionen anschlossen. "Das Kaffee Cron & Lanz, damals noch im südlichen Eckhaus von Theater- und Weender Straße, sah unseren regelmäßigen Mittagstisch [...], sah unsre arbeitsreichen Sitzungen, unsre oft geistsprühenden Kneipen", berichtet Johannes Bornemann [Johannes Bornemann, Ein hannoverscher Theologe um die Jahrhundert-Wende. Otto Gehrke. Erinnerungsbilder mit Ausblicken auf unsere kirchliche Zukunft, Göttingen 1932, S. 13 (zitiert in Janssen, S. 18)] .
Ebenfalls einmal in der Woche wurde der zweite Teil der Vereinsstatuten erfüllt: Zur Pflege des freundschaftlichen Verkehrs wurde jeden Samstag eine "Kneipe" abgehalten, die sich oft bis weit nach Mitternacht hinzog und an der sich natürlich auch die "Religionsgeschichtler" aktiv beteiligten.
Doch manchmal schlug man auch ein wenig über die Strenge. Immerhin waren die Studenten gerade 20 Jahre alt, und auch die angehenden Lizentiaten waren nicht viel älter. Ihre Späße unterschieden sich kaum von den heutigen:
Montag, 23.7.1888: "Exkneipe zu Ehren des alten Herren Muuß. Beim Nachhausegehen thaten Gunkel, Lic. Bernhard Vulmahn u. ich uns zusammen. Vor dem Stifte ulkten wir erst noch mit Rieffenberg. Dann zogen wir im Stumpfebiel weiter zum Spritzenhaus. Hier wurden Theaterscenen gemimt. Rieffenberg war hinaufgestiegen in seine Bude, machte aber noch Radau. So hielt er eine rasselnde Weckuhr zum Fenster heraus. Endlich warf er seinen Spazierstock herunter. Gunkel nahm ihn u. nun begannen wir zu fechten u. uns tot zu stechen. Er [d.i. Gunkel] stürzte gegen die Spritzenhaustür u. ich brach auf dem Grandhaufen zusammen. Dann belagerten wir einen Thorweg in einer hohen Mauer. Ich erklärte aber - als König Philipp von Macedonien (359-336) -, ein goldener Esel würde trotzdem die Mauer überschreiten. Sofort ermunterte mich der lustige Gunkel, ich sollte es doch versuchen. Ich sagte ihm auch, gleich auf den Scherz eingehend, ich hätte leider kein Geld, er sollte mir jedoch ein Goldstück geben, dann wollte ich es schon fertig bringen. Er drückte mir dann ein Geldstück in die Hand u. beide hoben mich empor. Dabei entglitt dem Pulle [d.i. Vulmahn] seine Pfeife. Kopf u. Schwammdose zersplitterten. Fast war ich oben auf der Mauer, da kamen Männer u. wir rückten aus. Auf der Weenderstraße wurden dann der Taucher, der Sänger u. andere Stücke aufgeführt. Auf dem Walle gab es ebenfalls noch viel Spaß. Beim heftigen Gestikulieren entflog dem armen Pulle auch das Pfeifenrohr. - Dann brachten wir Gunkel nach Hause, nachdem wir noch alle drei auf dem Trottoir sitzend uns Witze erzählt hatten."
[IV. Tagebuch von Friedrich Borcherding, S. 286.].
Aus dem Eichhorn-Kreis waren in der ersten Hälfte der 80er Jahre William Wrede sowie die Brüder Wilhelm und Johannes Bornemann Mitglieder im akademisch-theologischen Verein, in der zweiten Hälfte desselben Jahrzehnts gehörten Hermann Gunkel und Karl Mirbt zu ihrem Kreis, wie überhaupt trotz aller theologischer Differenzen "die Mehrzahl mit Begeisterung Albrecht Ritschl und Hermann Schultz anhing" [Bornemann, S. 19] .
Es fällt auf, daß von den vier Gründungsmitgliedern der später auch für die Entwicklung zur "Religionsgeschichtlichen Schule" wichtig werdenden liberalen Zeitschrift "Christliche Welt" mit Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs und Paul Drews allein drei dem akademisch-theologischen Verein angehörten. Lediglich Martin Rade zählte nicht dazu; er hatte nie in Göttingen studiert.
Neben den studentischen Mitgliedern konnten bei den Zusammenkünften auch Professoren, Privatdozenten oder vor der Lizentiatenprüfung stehende Theologen begrüßt werden, und zwar in einem regelmäßig sich einfindenden Kreis. Besonders häufig nahm Bernhard Duhm als Gast an den Vereinsabenden teil. Von den Lizentiaten waren Gunkel, Mirbt, Weiß und später Rahlfs, sowie der nach Göttingen zurückgekehrte Wrede oft dort gesehene Gäste, nicht nur bei den wissenschaftlichen Vorträgen, sondern auch bei den geselligen Kneipen.
Man fühlte sich als "Clique" und empfand die gemeinsamen Abende als harmonisches Zusammensein mit guten Freunden. Diese Gemeinschaft gleichgesinnter angehender Theologen blieb auch während des Habilitationsprozesses bestehen: man half sich gegenseitig durch die Disputation. So traten die Freunde für einander als Opponenten bei der Verteidigung der Lizentiatenthesen auf:
Samstag, 7.1.1888: "Ich ging um 11 nach der Aula, wo Inspektor Mirbt seine 10 Thesen verteidigte zum Zweck die Licentiatenwürde zu erhalten. Als Opponenten traten officiell cand. theol. Gunkel und J. Weiß auf [...]. Nach ihrer Zurückweisung griff auch Prof. Ritschl in launiger Weise die eine der 10 Thesen an, sagte dann aber am Schlusse, er wünsche dem Mirbt, daß er bis zum Ende hin mit gleicher Bravour sie verteidige. Von der Zuhörerschaft trat auch ein hallescher Licentiat auf gegen eine der Thesen. Als auch der zurückgeschlagen war, bestieg unser Dekan Prof. Wagenmann die Rednerbühne u. las eine lateinische Rede vor u. vereidigte zum Schluß auf Lateinisch den Mirbt auf die Heilige Schrift."
[Borcherding, IV. Tagebuch., S. 279.].
Nur einen Monat später habilitierte sich Johannes Weiß, der spätere Schwiegersohn Albrecht Ritschls. Auch er hatte zwei Freunde zu Opponenten:
Samstag, 25.2.1888: "[...] heute vormittag um 10 Uhr fort zur Disputation des Licentiaten Weiß. Auf der Weenderstraße sah ich cand. Gunkel ganz gemütlich dahin ziehen. Er fragte, ob ich denn auch wüßte, daß es erst um 10 anginge. Ich sagte Ja, das wäre es nämlich jetzt. Er wurde vor Schreck ganz rot u. bat mich mit nach seinem Hause zurückzukehren. Er hatte sich [...] um eine Stunde verrechnet u. wollte sich gerade die Haare schneiden lassen. Ich half ihm nun beim Anziehen, da er unbedingt dabei sein mußte als Opponent des Weiß. Wir kamen glücklicherweise zur rechten Zeit an, doch bekam ich nur noch einen Stehplatz. - Die Disputation war sehr interessant. Mirbt, der zweite Opponent, wünschte dem Weiß immer soviele Zuhörer wie heute."
[A.a.O., S. 306.]
Wiederum nur 4 Monate später verteidigte Hermann Gunkel seine Thesen. Die Opponenten: Karl Mirbt und Johannes Weiß.
Alf Özen, 1996
- Die "kleine Göttinger Fakultät"
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Bald nach ihrer Habilitation hatten die meisten Mitglieder der "kleinen Fakultät" Göttingen verlassen: Ernst Troeltsch wurde 1892 nach Bonn berufen, William Wrede 1893 nach Breslau. Heinrich Hackmann ging 1894 als Pfarrer nach Schanghai, Johannes Weiß erhielt 1895 ein Ordinariat in Marburg. Alfred Rahlfs verblieb in Göttingen, widmete sich jedoch bald ausschließlich der Weiterführung der Septuaginta-Studien seines verstorbenen Lehrers de Lagarde. Als einziges aktives Mitglied der "kleinen Fakultät" wirkte Wilhelm Bousset weiter in Göttingen und rückte nach über fünf Jahren als Privatdozent in der Nachfolger von Johannes Weiß zum Extraordinarius auf.
Troeltsch erinnerte sich im Rückblick, daß Bousset lange und schwer darunter gelitten hatte, sich in kümmerlichen Verhältnissen durchkämpfen zu müssen [So in Ernst Troeltsch, Die "kleine Göttinger Fakultät" von 1890, in: ChW 34 (1920), Sp. 281-283 ; hier, Sp. 283; wieder abgedruckt in: Lüdemann/Schröder, S. 22f.] . Diese Situation bestand auch ähnlich während seines Extraordinariats bis 1916 unverändert fort, bevor er endlich - vier Jahre vor seinem Tod - eine ordentliche Professur in Gießen antreten durfte.
Seine eigene Forschungsarbeit setzte er auch nach dem Weggang der Freunde aus der "kleinen Göttinger Fakultät" unvermindert fort. Mitte der 90er Jahre war bei ihm die Vorstellung vom Christentum als "synkretistischer Religion" voll entwickelt. Der Vergleich verschiedener Religionen miteinander war zu einem Mittel geworden, die Entstehung des Christentums durch Untersuchung der in ihm nachweisbaren äußeren Einflüsse zu erklären. Das Christentum wurde von Bousset dabei als die höchste und vollkommenste Entwicklungsstufe aller bekannten Religionen angesehen. Er erkannte die Konsequenzen dieser Schlußfolgerung genau:
"[...] Freilich stehen wir damit vor einer neuen Problemstellung. Wird es gelingen auf Grund jener religionsgeschichtlichen Erkenntnis doch den absoluten Wert des Evangeliums u. der Person Jesu zu behaupten? - Das ist die Lebensfrage für Theologie und Kirche. - Ich meine es wird und muß gelingen, ich hoffe es bestimmt, wenn mir auch noch die bestimmte Formel fehlt. Denn eins ist mir auch auf der andern Seite klar geworden und immer klarer: Die unvergleichliche Höhe der Religion des alten und neuen Testaments. Ich habe gewiß nicht als 'apologetischer Jünger' (Tröltsch) [sic!] die Religionsgeschichte durchstreift, die Beobachtung hat sich mir fast möchte ich sagen wider Willen aufgedrängt. Es ruht ein ganz eigentümliches Geheimnis gerade auf diesem Teil der Religionsgeschichte der sogenannten Offenbarungsreligion. Gerade wenn man die Psalmenfrömmigkeit mit der assyrischen Psalmenlitteratur vergleicht, so staunt man darüber was der hebräische Geist aus jenen Ansätzen gemacht hat. Genesis 1. wird, wenn man in ähnlicher Art vergleicht, ebenfalls eine gewaltige That. Und je länger man in die dunkle lichtlose Welt des Judentums hineinschaut, desto mehr erscheint das Evangelium als der Aufgang aus der Höhe, der leuchtende strahlende Stern. Kein einzelner Gedanke fast in dem ganzen Gebilde neu, und doch das Ganze eine Erscheinung höherer unvergleichlicher Art. - Und beim Evangelium darf man wieder nicht nur auf den Anfängen seinen Blick ruhen lassen. [...]
Für mich wird Paulus mehr u. mehr der Gipfelpunkt der Religionsgeschichte, [...] Denn er ist wie kein andrer der Prediger der Erlösung. Der Gedanke der Erlösung aber ist doch recht eigentlich das Centrum der Religionsgeschichte, und der Kernpunkt aller Religion. Alle Religion ist ein Hinausahnen und Streben des Menschen aus seiner Welt, u. Sehnsucht nach einer andern Welt voll höherer Mächte u. besserer Güter, mag nun 'diese' den Menschen bekannte u. vertraute Welt eine Hand breit Erde sein und die wenigen Geräte mit denen er sie bearbeitet, oder der Blick der Menschen sich erweitert haben über die Sternenwelt. Mag 'jene' Welt beginnen mit den Bergen und Wäldern in denen der Mensch Geister hausen sieht, oder mit den leuchtenden strahlenden, segnenden Gestirnen, oder mag er sie suchen u. glauben jenseits von Raum u. Zeit. [...] Und so ist in der That Römer 8 die Krone der Religionsgeschichte."
[Brief von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, 29.12.1897 (UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151).]
Bousset weist hier auf eine oben bereits erwähnte Konsequenz der religionsgeschichtlichen (hier wohl besser: religionsvergleichenden) Forschungsmethode hin: Die Erkenntnis einer Absorbierung "fremdreligiöser" Elemente in der Entwicklung zum und durch das frühe Christentum sowie der Geschichtlichkeit auch der christlichen Religion mußte in der letzten Konsequenz den Absolutheitsanspruch des Christentums gegenüber anderen Religionen gefährden.
Für Bousset blieb das Christentum jedoch trotz seines auf die Religion übertragenen Evolutionsgedankens die nicht überbietbar höchstentwickelte Form von Religion: "Zwingt uns die alles in Fluß setzende Geschichtsforschung nicht zu der Anerkennung, daß auch die christliche Religion nur eine vorübergehende überbietbare Form der Religion sei [...]? Ich glaube nicht" [Wilhelm Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, S. 260; Hervorhebung im Original] . In diesem Punkt unterscheidet sich Bousset von seinem Freund Troeltsch, der zwar die praktische, aber keine theoretische Absolutheit des Christentums gelten läßt, da dem Christentum aufgrund der Entwicklung von Geschichte (und darin sei die Religion immer eingeschlossen) nur die relativ höchste Stellung zukommen kann: "Eben deshalb ist auch mit keiner strengen Sicherheit zu beweisen, daß es der letzte Höhepunkt bleiben müsse und daß jede Überbietung ausgeschlossen sei" [Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, Tübingen/Leipzig 1902, S. 94; Hervorhebung im Original] .
Auch das Argument einer göttlichen Offenbarung im Christentum, die es über alle anderen Religionen erhöbe, ließen die "Religionsgeschichtler" in dieser Form nicht gelten: "Die religionsgeschichtliche Richtung behauptet mit aller Energie eine lebendige und wirkliche Offenbarung Gottes. Was wir, Tröltsch [sic!] und jeder, der sich in unserem Kreise zu dieser Frage geäußert, verwerfen, und worauf unsere Gegner allerdings alles Gewicht legen, ist die Annahme eines absoluten Unterschiedes zwischen der spezifischen Offenbarung Gottes in Christo [...] und der allgemeinen göttlichen Offenbarung in den Religionen der Völker und die Behauptung, daß erstere von letzterer nicht blos graduell sondern toto genere verschieden sei" [Wilhelm Bousset, Die Mission und die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1907, S. 7; Hervorhebung im Original. Vgl. zu diesen Fragestellungen auch Gunnar Sinn, Christologie und Existenz, TANZ 4, Tübingen 1992, S. 16f., der ebd. Anm. 104 darauf hinweist, daß schon Johannes Weiß in seiner 7. Promotionsthese von 1888 bemerkt: "Der Satz Kählers [...]: 'Alles heidnische, d.h. nicht christliche religiöse Leben entbehrt der Offenbarung' verstösst gegen die christliche Weltanschauung" (abgedruckt in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.], Troeltsch-Studien I, Gütersloh 1982, S. 296); vgl. auch das zum Bruch mit den Ritschlianern Ausgeführte.]
Der Gedanke, daß die verschiedenen Religionen der Welt im Grunde nur unterschiedliche Entwicklungsstufen desselben menschlichen Erfahrens darstellen, ist bei allem historischen Forschungsinteresse der "Religionsgeschichtler" nur unter Berücksichtigung des herrschenden Zeitgeistes vollständig zu begreifen: Die Darwin'sche Entwicklungslehre mit ihrer Behauptung eines gleichzeitigen Nebeneinanders von in unterschiedlichen Entwicklungsstufen vorhandenen, ansonsten aber verwandten Phänomenen (Affe - Menschenaffe - Mensch) wird auf die gleichzeitige Existenz verschiedener Religionsstufen projiziert (primitive Religion - Buchreligion - Christentum). Hier muß die "Religionsgeschichtliche Schule" ganz als ein Produkt ihrer Zeit verstanden werden. Dies sah auch Alfred Jeremias ähnlich, der einen solchen Ansatz ablehnt:
"Die 'religionsgeschichtliche Schule' hat in dem ernsten Bestreben nach Verständigung mit den 'Gebildeten' unserer Zeit die Forderung aufgestellt, man müsse bei der Religionsvergleichung darauf verzichten, das Christentum als 'absolute Größe' anzusehen, man dürfe ihm keine 'Vorzugsbedingungen' einräumen. Es zeigt sich in diesem Verlangen die Konsequenz der auf die Religionsgeschichte übertragenen Evolutionstheorie"
[Alfred Jeremias, Babylonisches im Neuen Testament, Leipzig 1905, S. 1; zitiert nach Lüdemann/Schröder, S. 17).]
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse schienen mit den bestehenden Überzeugungen des Christentums unvereinbar zu sein. Im allgemeinen
"[...] entsprach [es] der Neigung der Zeit, das Christentum nicht als lebenschaffende Kraft, sondern als intellektuelle Weltanschauung anzusehen, die aber vor den Grundideen der Naturwissenschaften und der kritischen Philosophie nicht bestehen könne, die von der Geschichte wie der Entwicklungslehre bestritten und überholt, gegenüber der Freiheit und Unbefangenheit des modernen Lebens veraltet und unhaltbar sei."
[Johannes Scholz, Geschichte der Burschenschaft Germania in Göttingen. Zweiter Teil, Neustrelitz 1931, S. 10.]
Schon seit den Jahren des "Eichhorn-Kreises", aber besonders jetzt in einer Zeit, in der die radikale historische Methode der "kleinen Göttinger Fakultät" das überkommene Bild des Christentums in Frage stellte, war die in der Theologie der Zeit oft geforderte Entscheidung eines "entweder - oder" von naturwissenschaftlichem bzw. religiösem Weltbild eine durchaus grundsätzliche. Die Religionsgeschichtler waren in dieser Frage durch ihre Lehrer vorgeprägt. Eingangs wurde Albert Eichhorns Schätzung von Hermann Lotze erwähnt. Eichhorn hatte gesagt: "Seine Weltanschauung ist die meinige" [Lebenslauf Eichhorns. Abgedruckt bei Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1960, S. 141-152; hier S. 141.] (s. oben S. 36). Und Lotzes Lebenswerk ist "als ein großangelegter Syntheseversuch von moderner Naturwissenschaft und philosophischer Forschung mit einer auf der Höhe der Zeit stehenden Religiosität zu charakterisieren" [Lüdemann/Schröder, S. 36.] .
In Göttingen beschäftigte sich der seit 1895 als Stiftsinspektor tätige Rudolf Otto, der auch schon 1889 und 1891/92 hier studierte und mit der "kleinen Fakultät" seither bekannt war, mit diesem Fragenkomplex. Otto war - wie sein Freund Heinrich Hackmann - von fernen Ländern und fremden Kulturen fasziniert. Er unternahm Reisen nach Griechenland, Palästina, Ägypten, aber auch nach China und Japan. Bousset und Otto waren bald eng befreundet. Ihre Ansichten über das Christentum als synkretistische Religion, aber auch über den Urgrund aller Religion(en) in einem gemeinsamen Kern und dem Christentum als seiner höchsten Entwicklungsstufe, führte sie zusammen.
Otto widmete dem Thema Religion und Darwinismus später einige Publikationen: Darwinismus von heute und Theologie, in: ThR 5 (1902), S. 483-496; Darwinismus und Religion, in: Abhandlungen der Fries'schen Schule NF 3, Göttingen 1909, S. 14-40 sowie Goethe und Darwin. Darwinismus und Religion, Göttingen 1909.
Aus einer seiner ersten Vorlesungen entstand später Ottos gleichnamiges Buch "Naturalistische und religiöse Weltansicht", in dem er ein Miteinander beider "Weltansichten" zu erweisen suchte. Denn "in Wahrheit sind die reinen Ergebnisse der Forschung weder heute noch früher 'aggressiv', sondern an und für sich gegen religiöse sogut wie gegen jede idealistische Betrachtung in der Tat ganz neutral und sie überlassen es sozusagen den höheren Betrachtungsweisen, wie diese den Stoff in ihre Fächer und unter ihre Gesichtspunkte aufnehmen wollen" [Rudolf Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904, S. 4] .
Für Ottos theologische Entwicklung waren die Freundschaft und der Gedankenaustausch mit Bousset immens wichtig. So weist Verheule mit Recht darauf hin, daß Bousset den Anschauungen Ottos über das Heilige, die dieser später in seinem gleichnamigen Hauptwerk entfaltete [Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917] , vorgearbeitet habe:
"Die Verwandtschaft zwischen einer Äußerung wie 'Es ist zunächst ( ) das Fremdartige und Wunderbare, das Unberechenbare und Übermächtige, das religiöse Verehrung auf sich zieht' [W. Bousset, Das Wesen der Religion, 3. Aufl. S. 13] und R. Ottos Auffassung über das Heilige als das 'Ganz Andere', das 'Mysterium tremendum, fascinans und augustum' [R. Otto, Das Heilige, 17-22. Aufl., Gotha 1929, z.B. S. 31, (Das Ganz Andere), S. 23 (Das Übermächtige) und passim (1. Aufl. 1917)] ist ohne weiteres klar und wundert nicht, wenn man den freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Religionshistorikern Rechnung trägt."
[Anthonie Frans Verheule, Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973, S. 295, folgt hier Kurt Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zum Problem der Religionswissenschaft, SSAW.PH 107/H.1, Leipzig 1962, S. 53.]
Alf Özen, 1996
- Das theologische Stift in Göttingen und die "Religionsgeschichtliche Schule" (1882-1900)
"Von besonderem Werte können aber auch die Konvikte werden, die jetzt an einer größeren Zahl unserer Universitäten teils vom Staate selbst errichtet sind, teils aus privaten Stiftungen hervorgegangen sind, aber auch in letzterem Falle meist in bestimmte engere oder weitere Beziehungen zu unsern Fakultäten gestellt sind. Das größte, älteste und eigenartigste dieser Konvikte ist das Tübinger Stift, das für die ganze Studienzeit seine Mitglieder aufnimmt und unter dem Inspektorate mehrerer Professoren, von denen einer die Stelle des Ephorus bekleidet, und der Tätigkeit von Repetenten den Studiengang vom Anfang bis zum Abschluß des Studiums überwacht, leitet und durch die verschiedensten Übungen im Stifte selbst wirksam unterstützt. Die andern Konvikte gewähren meist nur für eine beschränkte Zahl von Semestern den Studierenden Aufnahme und einen Teil ihrer Beköstigung. Ein jüngerer tüchtiger Theologe, nicht immer zugleich Dozent, verwaltet das Amt eines Inspektors des Konviktes mit der Verpflichtung, bestimmte, meist exegetische Übungen mit den Konviktualen zu halten. Dazu kommt der persönliche Verkehr des Inspektors mit letzteren und ihr eigener Verkehr unter einander als die tägliche Gelegenheit zu mannigfacher Förderung inbezug auf die Studien und alles, was an Fragen das Herz bewegt."
[D.G. Kawerau: "Evangelisch-theologische Fakultät", in: W. Lexis (Hrsg.): Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, 1. Band: Die Universitäten im Deutschen Reich, Berlin 1904, S. 71, hier S. 70 (ausführlich abgedruckt in Lüdemann/Schröder, S. 45).]
Seine endgültige Gestalt bekam das Göttinger Theologische Stift durch ein ministerielles Reglement vom 8. Juni 1878. Jeweils 16 (vorher 12) Studenten erhielten für ein Jahr im Stift eine Freiwohnung und, je nach Bedürftigkeit, eine zusätzliche Semesterunterstützung von 33 Mark. Den Gesuchen der Studenten um Aufnahme in das Stift war ein Bedürftigkeitsnachweis beizufügen. Zum mindesten William Wrede und Wilhelm Bornemann wohnten hier als Studenten in ihrer Göttinger Zeit im Jahr 188O/81. Nach dem Reglement von 1878 trat an die Spitze des Stifts statt der bisherigen drei Repetenten ein Inspektor für jeweils zwei Jahre mit der Möglichkeit einer halbjährigen Verlängerung. Der Inspektor erhielt freie Wohnung im Stift und eine "Jahresremuneration" von 1200 Mark. Die begehrte Stellung, die dem Anwärter zwei Jahre relativ ungestörten, finaniziell gesicherten Arbeitens und Lebens ermöglichte, war rasch in der Hand der jungen "Religionsgeschichtler" und blieb es - mit einer Ausnahme - für die nächsten knapp 20 Jahre.
Die Stiftsinspektoren und ihre Amtszeit im einzelnen:
Wilhelm Bornemann 11. Januar 1882 - 30. September 1884 William Wrede 1. Oktober 1884 - 30. September 1886 Carl Mirbt 1. Oktober 1886 - 30. September 1888 Alfred Rahlfs 1. Oktober 1888 - 30. September 1890 Heinrich Hackmann 1. Oktober 1890 - 31. März 1893 Rudolf Otto 1. Oktober 1895 - 30. September 1897 Wilhelm Heitmüller 1 . Oktober 1897 - 31. März 1900
Die Information über die bevorstehende Vakanz der Stelle ging im Freundeskreis von Mund zu Mund; Heitmüller sprach dies in seiner Bewerbung ganz offen an.
Das Inspektorat bot ihnen die einmalige Gelegenheit, dem Kirchendienst für eine Weile auszuweichen und stattdessen den Grundstein für ihre akademische Laufbahn zu legen. Der Stiftsinspektor durfte sich als solcher zwar nicht habilitieren, doch diente die Zeit der Vorbereitung der Habilitation, die alle Genannten kurz nach dem Inspektorat abschließen konnten. Und zu einer erfolgversprechenden Bewerbung gehörte übrigens auch der Nachweis einer ausreichenden wissenschaftlichen Qualifikation des Kandidaten. So heißt es im Reglement von 1878:
"Der Vorzuschlagende muß mindestens schon ein Jahr die Universitätsstudien beendet haben und nach seinem Charakter wie nach seinen Anlagen und Kenntnissen der Fakultät bekannt sein. Liegen der theologischen Fakultät über die ausreichende Befähigung desselben überzeugende Beweise vor, so kann sie von der Vornahme einer besonderen Prüfung Abstand nehmen. Andernfalls ist von dem Bewerber eine theologische Abhandlung einzureichen, und wenn diese genügend befunden wird, eine Predigt in der Universitätskirche zu halten."
[Reglement für das Theologische Stift bei der Königl. Universität zu Göttingen. Berlin, den 8. Juni 1878, Paragr. 6. Der Minister der geistl., Unterrichts- u. Medicinal-Angelegenheiten. Falk. Theol. Fak. Nr. 128a:I. Universitätsarchiv Göttingen.]
Heinrich Hackmann mußte eine solche Abhandlung nachliefern; Alfred Rahlfs konnte als Inspektor schon einen Dr. phil. vorweisen, und für Wilhelm Bornemann, William Wrede, Heinrich Hackmann und Wilhelm Heitmüller scheint deren vormaliger Aufenthalt im Predigerseminar Loccum bei der Bewerbung hilfreich gewesen zu sein.
Problematisch im Verhältnis zu den Stiftsinsassen und vor allem zu der Fakultät war die Aufgabe der Inspektoren, sogenannte "Stiftsabende" abzuhalten. Hierzu heißt es im Reglement von 1878:
"Er [d.i. der Inspektor] hat außerdem die wissenschaftlichen Studien der sämmtlichen Mitglieder des Stifts durch Repetirübungen über deren Umfang und Themata der Dekan der theologischen Fakultät im Einvernehmen mit der letzteren nähere Bestimmungen trifft, zu beleben und zu unterstützen [...]."
[Reglement, a.a.O., Paragr. 3.]
Nicht nur fürchteten die Professoren, daß ihnen ein Vorlesungen haltender Inspektor Hörer abspenstig machen könnte, sondern sie wünschten offenbar auch keine Konkurrenz durch die Themata der Stiftsübungen. Ein Gesuch von Alfred Rahlfs an die Fakultät, im Wintersemester 1889/90 eine Stiftsübung über den Brief des Paulus an die Galater abhalten zu dürfen, wurde mit der Bemerkung abgelehnt, es sei ein Buch vorzuziehen, das nicht Gegenstand einer Vorlesung sei [Gesuch vom 21.10.1889. Theol. Fak. Nr. 128:II. Universitätsarchiv Göttingen. Rahlfs nahm stattdessen die Apostelgeschichte durch] .
Hans-Joachim Dahms, 1987
- Die Burschenschaft "Germania" in Göttingen
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Seit dem Beginn der 90er Jahre entstand ein weiterer außeruniversitärer Ort, der für die Entwicklung der angehenden "Religionsgeschichtler", aber auch für jüngere Theologiestudenten, wichtige Impulse gab: die Burschenschaft "Germania" unter der Führung von Wilhelm Bousset.
Die seit 1851 bestehende nicht-schlagende Burschenschaft "Germania", der Studenten aller Fakultäten angehören konnten, hatte Ende der 80er Jahre kurz vor ihrer Auflösung gestanden. "Sie hatte seit dem S. [ommer] -S. [emester] 87 nie mehr als neun bis elf Aktive, meistens nur sechs bis acht, einmal nur drei [...]" [Hermann Schuster, Geschichte der Burschenschaft Germania in Göttingen, 3. Teil, Bremen 1956, S. 13].
Die "Germania" war eine "christliche" Verbindung. Doch "[...] nie ist in der Geschichte der Verbindung Gewissenszwang geübt, nie sind dogmatische Schranken aufgerichtet, es ist [...] auf dem Boden der Freundschaft dem Gewissen des einzelnen überlassen worden, wie weit er sich in seinem ehrlichen Streben noch als Glied der Verbindung fühlt, auch wenn er mit David Strauß dahin käme, auszurufen: Wir sind keine Christen mehr!" [Johannes Scholz, Geschichte der Burschenschaft Germania in Göttingen. Zweiter Teil, Neustrelitz, 1931, S. 35.]
Die "Germania" wollte eine Hilfe bieten für die Suche ihrer jungen Mitglieder nach eigenen theologischen oder auch religiösen Positionen. "Davon gingen die Stifter aus, indem sie Schwankungen (Rückfälle und Rückkehr) anerkannten, nicht fertige, sondern werdende Christen annahmen, für deren aufrichtiges Streben die Germania eine Gemeinschaft der Förderung und des Beharrens auf dem Wege sein solle, auch eine Stütze in Zeiten des Zweifels durch Freundschaft" [Scholz, a.a.O., S. 61].
Im Wintersemester 1886/87 kamen zwei Studenten nach Göttingen, die seit ihrer gemeinsamen Erlanger Zeit zwei Jahre zuvor eng befreundet waren: Wilhelm Bousset und Ernst Troeltsch. Beide waren in Erlangen in der "Uttenruthia", die dem Schwarzburgbund angehörte, aktiv gewesen. Obwohl sie in Göttingen des öfteren als Gäste die Abende der Germania besuchten - wie auch schon vorher Johannes Weiß -, so schlossen sie sich doch nicht ihr, sondern der "Schwarzburgbundgesellschaft" an, die eine Anlaufstation für die in Göttingen studierenden Mitglieder von zum Schwarzburgbund gehörenden Verbindungen bot. Bousset avancierte zum Führer dieses Kreises und war auch bei dessen Annäherung an die Germania 1892 beteiligt, als diese ihrerseits Anschluß an den Schwarzburgbund suchte, um eine Zwangsauflösung aufgrund der geschwundenen Mitgliederzahl zu verhindern.
Die Aufnahme der Verbindung in den Schwarzburgbund 1893 und die damit verbundene Öffnung für Kartellphilister bedeutete den Beginn eines neuen Aufschwungs für die Germania. Die Zahl der Mitglieder, Kartellbrüder und Hospitanden stieg zunächst sprunghaft auf 28 an. Zwei Jahre später waren es schon "45 Menschen, die sich regelmäßig mindestens des Mittags im Germanenhause trafen" [Schuster, a.a.O., S. 30 Anm. 1.].
Schon bald war Bousset zu einer führenden Persönlichkeit in der Germania geworden. "Er verwendete einen Teil seiner ohnehin geringen Einkünfte als Privatdozent und als Extraordinarius darauf, zum Kauf eines Verbindungshauses beizutragen und die bis dahin darniederliegende Bibliothek auszubauen bzw. die studentischen Mitglieder [...] bei deren Ausbau zu beraten" [Hans-Joachim Dahms, Das Göttinger Theologische Stift 1878-1900, in: Lüdemann/Schröder, S. 45-51, hier S. 42] . Es wurde ihm nachgesagt, "auf das gesamte Denken junger Menschen einzuwirken und es in vielen Fällen zu revolutionieren" [Schuster , S. 41.] .
Doch was war dieses "Revolutionierende" an Boussets theologischen Erkenntnissen? Der Untertitel seiner 1892 erschienenen Schrift "Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum" deutet es bereits an: "Ein religionsgeschichtlicher Vergleich". Mit diesem Werk wollte er in der Jesusforschung einen neuen Weg bahnen, der "in der Forderung einer konsequent [...] angewandten Heranziehung der religiösen Gedanken und Stimmungs-Welt des Spätjudentums zum Verständnis der geschichtlichen Erscheinung Jesu [besteht]. Es wird die Aufgabe gestellt, die Persönlichkeit Jesu [...] von dem Boden aus zu begreifen, auf dem sie erwachsen ist, vom Boden des Spätjudentums" [Wilhelm Bousset, Die Predigt Jesu in ihrem Gegensatz zum Judentum, Göttingen 1892, S. 6] . Dazu durften aber Bibel und Christentum nicht losgelöst von profangeschichtlichen Entwicklungen gesehen, sondern mußten als in einen universalen geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gehörig erkannt werden. Konsequent untersuchte er die Umwelt des Urchristentums auf wechselseitige Abhängigkeiten voneinander. Jüdische, babylonische, persische und hellenistische Einflüsse auf das entstehende Christentum konnten Bousset und seine "religionsgeschichtlichen" Freunde dabei nachweisen.
Noch deutlicher geht Boussets Forschungsansatz aus einem Brief an seinen Freund Paul Wernle hervor:
"Auf der einen Seite gewinne ich durch das Studium der semitischen Religionen einen immer tieferen Einblick, wie tief thatsächlich die Religion des alten u. neuen Testaments mit der allgemeinen Religionsgeschichte verwachsen ist. Es ist wie unentwirrbares Wurzelgefaser. Klarer und klarer wird mir, daß vor allem das Judentum kein legitimes Erzeugnis der altisraelischen Religion ist, sondern hier d. verschiedensten Ströme zusammengeflossen sind. Schon Eine [sic!] Vergleichung der alttestamentlichen mit den babylonisch-assyrischen Bußpsalmen ist im höchsten Grade lehrreich. Die alttestamentliche Bußstimmung schon lange vorher vorhanden in einer polytheistischen Religion, bis in Einzelheiten ausgebildet! auch [sic!] hier d. Bitte um die Vergebung verborgener Sünden, auch hier das 'Ich'-Problem etc. Doch wieder welch ein Abstand hier u. dort, welch ein eigenartiges Weiterbilden. - Und so gehts weiter. Die Idee von den beiden einander-folgenden Welten, die Hoffnung der Totenauferst[eh]ung und zwar - was das bedeutsame ist im Zeitalter -, der endgültige Kampf Gottes mit dem Teufel, dem Herrscher dieser Welt, vorgebildet in der iranischen Religion! Die ganze religiöse Sprache des Spätjudentums mit den bizarren grotesken Bildern nicht erwachsen auf dem Boden des alten Testaments! Dazu kommen unleugbar bedeutende Einflüsse aus der griechischen Welt, wenn sie sich auch schwer genauer bestimmen lassen. Resultat: ein wahrer Hexenkessel: das Judentum, tausendfache Ansätze [...], alles durcheinander wirbelnd siedend gährend. Und dann gleichsam eine metabasis eis allo genos: Das Evangelium. - Die Geschichte war in der That noch viel größer und gewaltiger als sie sich in den Augen der meisten Theologen, die auch noch viel zu wenig Faktoren rechnen, ausnimmt"
[Brief von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, Lübeck 29.12.1897 (UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151).]
Boussets Engagement in der Germania beeinflußte dort neben angehenden Wissenschaftlern auch künftige Pastoren und Religionslehrer. Als bekannteste von ihnen seinen hier genannt: Wilhelm Lueken, der später an dem von Johannes Weiß herausgegebenen "Göttinger Bibelwerk", einer Kommentarreihe zum Neuen Testament, mitarbeitete, Hermann Schuster, der spätere Abgeordnete im Preußischen Landtag und Honorarprofessor in Göttingen [Ab 1906 war Schuster Herausgeber der "Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht, von 1910 bis zur Annahme seines Landtagsmandats 1921 auch Mitherausgeber der "Theologischen Literaturzeitung"], der Neutestamentler Wilhelm Heitmüller und der einige Semester in Göttingen studierende Schweizer Paul Wernle [Von Bousset für das "Spätjudentum" interessiert, hatte es Wernle besonders das apokalyptische Buch Henoch angetan, wodurch er seinen Spitznamen "Henoch" erhielt (so Schuster, S. 49). 1897 habilitierte er sich in Basel, wurde dort 1899 Ordinarius für Neues Testament und 1901 für Kirchengeschichte.]
Doch Boussets radikal historischer Forschungsansatz, der oft genug zum Bruch mit überkommenen religiösen Vorstellungen führte, fand nicht nur Beifall bei seinen Germanenschülern. So erinnerte sich Karl Woebcken später:
"Kaum aktiv geworden, nahm mich Wilhelm [d.i. Lueken] mit auf den Bummel zum Rohns hinauf und erzählte mir unterwegs, Strauß Leben Jesu sei recht zahm, jetzt ginge man viel weiter. Mir blieb die Spucke weg. Die um Bousset erschienen mir wie eine Horde von Bilderstürmern, die alles kurz und klein schlagen wollten. Lieber hörte ich bei Tschackert, von dem jene nur mit der größten Verachtung redeten, Kirchengeschichte und Symbolik und glaubte etwas von dem Geiste des Matthias Claudius zu spüren. Der Mann wollte nicht klüger sein als die Bibel. Gewiß, die Elite hielt zu Bousset und Naumann, es gab aber auch eine Gegenströmung. Petri erklärte ohne Begründung, er sei konservativ. Ackerschulz sagte unumwunden, das, was die um Bousset an Politik und Religion verzapften, sei ihm zu hoch. [...] Mops soll einmal geheult haben, als er einen Abend bei Bousset zugebracht hatte. [...] Wie man in Darwins Schöpfung den Schöpfer vermißt, so vermißte ich in Boussets Bibel den Heiligen Geist. Es war ja alles Menschenwerk, noch dazu eins, wo es nach Fälschungen stank. Ich konnte mich gewaltig darüber aufregen, daß der erste Petrusbrief nicht von dem Apostel geschrieben sein sollte."
[Brief von Karl Woebcken an Emil Lueken, Stillenstede 24.5.1956 (dem Archiv "Religionsgeschichtliche Schule" zur Verfügung gestellt von Otto Borcherding, Ludwigsburg).]
Solchermaßen in zwei Lager gespalten, kam es innerhalb der Germania 1896 zum offenen Bruch. Bousset resümierte:
"Es war allerdings eine gründliche Täuschung, als ich im Anfang des Semesters glaubte, daß alle Kämpfe zu Ende seien. Ich hatte gehofft, daß es gelingen würde durch ein energisches Regiment die schlaffen und flauen Seelen mit fortzureißen. Aber die haben, als alle Aussicht auf Einfluß in der Verbindung verloren gegangen war, es vorgezogen zu streiken und sind davon gegangen. [...] - Überhaupt sehe ich die Dinge viel ruhiger an, seitdem ich einsah, daß man es im Durchschnitt eigentlich nur mit recht großen Kindern zu thun gehabt, die selbst nicht wissen, was sie eigentlich wollen, sich der Tragweite ihrer Handlungen gar nicht bewußt sind und denen man nicht allzu böse sein darf. [...] Es wird aller Voraussicht nach sehr ruhig, sehr friedlich und sehr brav und sehr langweilig weitergehen. [...] Es wird eben eine brave Mittelmäßigkeit herrschen, ohne höheren Gedanken und Schwung, eine Verbindung und Zeit, die nicht die alte mehr ist [...]. Vielleicht daß in der jüngsten Generation der glimmende Funken wieder aufglüht."
[Brief von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, Lübeck 14.9.1896 (UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151).]
Alf Özen, 1996
- Die Entwicklung "religionsgeschichtlicher Kreise" in Deutschland (1890-1898) und der Bruch mit den "Ritschlianern"
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Bereits früh hielten die Mitglieder der "kleinen Göttinger Fakultät" Vorträge in ganz Norddeutschland und begannen auf diese Weise, ihre wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in kirchlichen und gemeindlichen Kreisen bekannt zu machen.
Neben die Untersuchungen des zeitgenössischen Judentums traten nun sporadisch Untersuchungen zur hellenistischen Religion als demjenigen Hintergrund, auf dem die neutestamentlichen Schriften entstanden waren, und ihrem Einfluß auf den Kultus des jungen Christentums. Gleichzeitig grenzten sich die "Religionsgeschichtler" - die "Jungen" - weiter von den Bewahrern des Erbes Ritschls - den "Alten" - ab [Die Termini beziehen sich dabei nicht auf das Lebensalter der Personen, sondern auch ihr Stellung contra bzw. pro Ritschl] : "Die Abkehr von Ritschl vollzog sich zunächst durch die Entdeckung des 'Spätjudentums', sodann durch die Erkenntnis der hellenistischen Religionswelt als entscheidenden historischen Voraussetzungen der neutestamentlichen Schriften" [Gerd Lüdemann, Die Religionsgeschichtliche Schule, in: Bernd Moeller, Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttinger Universitätsschriften A1, Göttingen 1987, S. 325-361, hier S. 335 Anm. 55; Hervorhebungen im Original].
1895 waren fast alle Mitglieder der "kleinen Göttinger Fakultät" an andere Universitäten berufen worden [Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich Bousset und Rahlfs, der sich allerdings inzwischen ausschließlich Spezialstudien am griechischen Text des Alten Testaments widmete und sich an keiner der für die anderen "Religionsgeschichtler" typischen Aktivitäten beteiligte, noch in Göttingen] . Dort traf ihr Wirken zumeist auf fruchtbaren Boden. Doch außer Hackmann, der schon 1894 nach Asien aufgebrochen war, blieben die "Religionsgeschichtler" untereinander in ständigem Kontakt und wirkten auch weiterhin in denselben Gruppen mit ("Christliche Welt" bzw. "Freunde der Christlichen Welt", "Wissenschaftlicher Predigerverein" u.a.).
Zumeist fand ihr radikal-historischer Forschungsansatz an den jeweiligen neuen Wirkungsstätten Anhänger, was auch dort zur Bildung von "religionsgeschichtlichen Kreisen" führte (z.B. in Bonn, Halle, Kiel, Marburg) - allerdings mit jeweils lokalspezifischen Eigenarten und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Außerdem entstanden forschungsverwandte Gruppen unabhängig von den Göttinger "Religionsgeschichtlern" unter Aufnahme von Ansätzen derselben Lehrer (z.B. durch Duhm in Basel und Harnack in Berlin). Ihnen entstammen u.a. Alfred Bertholet (1868-1951), Carl Clemen (1865-1940), Adolf Deißmann (1866-1937), Hugo Greßmann (1877-1927), Arnold Meyer (1861-1934), Friedrich Michael Schiele (1867-1913) und Heinrich Weinel (1864-1936).
Diese Zeitspanne ist anfangs gekennzeichnet von Dialogbereitschaft auf allen Seiten der "liberalen" Theologie. Diskussionen zwischen unterschiedlichen, ja oft gegensätzlichen theologischen Positionen wurden zwar vehement, aber sachlich in "liberalen" Publikationsorganen geführt. Zum wichtigsten Diskussionsforum entwickelte sich die Zeitschrift "Christliche Welt". Obwohl diese von Martin Rade u.a. 1886 ohne jegliche kirchen- oder parteipolitischen Bindungen gegründet wurde, hatten sich viele "konservative" Mitarbeiter schon bald zurückgezogen. In den Jahren kurz vor der Jahrhundertwende bestand der Autorenkreis der "Christlichen Welt" fast ausschließlich aus "liberalen" Mitarbeitern Ritschl'scher Prägung, und zwar verstärkt aus Mitgliedern der "Jungen". Der Vorwurf, Rade würde den "Jungen" in seiner Zeitschrift zu viel Raum gewähren, wurde von ihm zurückgewiesen mit dem Hinweis, daß ja erst die mangelnde Mitarbeit der "Alten" das Emporkommen der "Jungen" fördern würde.
Die in lockerer Folge einberufenen Eisenacher Zusammenkünfte der "Freunde der Christlichen Welt" boten jedes Jahr Gelegenheit zu Aussprache und Diskussion. Gerade der hier in Vorträgen der "Religionsgeschichtler" propagierte (historische) Radikalismus bot Zündstoff für erhitzte Debatten zwischen "alt" und "jung" [Die Vorträge der Mitglieder der "kleinen Göttinger Fakultät" waren: Bousset, Der geschichtliche Christus (1893); Weiß, Die gegenwärtige kirchliche Lage (1893); Troeltsch, Über den Begriff der Offenbarung (1895); Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (1901)] . Auf der Versammlung von 1896 ging es besonders kontrovers zu. Hier wurde in der Debatte über die Vorträge von Julius Kaftan ("Das Verhältnis des evangelischen Glaubens zur Logoslehre") und Adolf Harnack ("Die gegenwärtige Lage des Protestantismus") die eigentliche Trennung zwischen "alt" und "jung" innerhalb des Freundeskreises der "Christlichen Welt" eingeleitet.
Ferdinand Kattenbusch resümierte:
"Ich empfinde den Widerspruch [gegen die 'Jüngeren'] so stark, daß ich nur dann einwilligen kann, daß wir noch länger vor der Öffentlichkeit z.B. in der 'Christlichen Welt' zusammengehen, wenn wir auch ausdrücklich markieren dürfen, daß wir Älteren eine 'Gruppe' relativ geschlossener Art bilden."
[Brief von Ferdinand Kattenbusch an Martin Rade vom 17.1.1898. zitiert nach Johannes Rathje, Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952, S. 94.]
In ChW 12 setzte sich Kattenbusch 1898 eingehend mit der durch den Einbruch der "Jungen" geschaffenen theologischen Lage auseinander. Dabei wird der Kritikpunkt deutlich:
"Ritschl und wir 'alten' Ritschlianer sehen im Christentum oder in der Möglichkeit, c h r i s t l i c h e n Gottesglauben zu hegen, einen Faktor wirksam, der 'von außen' in die Geschichte hineingetreten ist [...]. Wir sehen in Christus eine eigentümliche und eine eigentlich supranaturale Manifestation Gottes. Troeltsch und andere sehen in ihm den Genius, der klar auszusprechen und ungebrochen vorzuleben wußte, was in aller Religionsgeschichte das gleiche Motiv oder Geheimnis sei [...]. Troeltsch glaubt durch das Studium der Kirchengeschichte gezwungen zu sein, nicht die Wahrheit des Christentums oder seinen Charakter als 'absoluter', will sagen der r e i f gewordnen Religion zu leugnen, wohl aber sein Recht als eine oder die supranaturale Religion gegenüber den andern zu gelten [...]."
[Ferdinand Kattenbusch, In Sachen der Ritschlschen Theologie, in: ChW 12 (1898), Sp. 59-62.75-81, hier 79f; Hervorhebungen im Original.]
Troeltsch wollte zu dieser Kritik nicht schweigen und formulierte die Trennungspunkte zwischen "alt" und "jung" seinerseits noch im selben Jahrgang der ChW:
"Die Wirkung der neuen geistigen Atmosphäre auf die Theologie besteht also darin, daß in ihr die historischen Studien einen bedeutsamen Aufschwung genommen haben und die dogmatischen fast ganz zurückgetreten sind, daß die Talente sich fast alle der Historie zuwenden und daß man an den dogmatischen Fragen mit möglichst kurzen und unbestimmten Andeutungen vorübergeht. Vor allem haben sich dabei ganz von selbst unter dem Zwange der Sache die alten Grenzen zwischen Christentum und Nicht-Christentum, zwischen den Gebieten natürlichen und übernatürlichen Geschehens verflüchtigt. Die stärkste und geistig bedeutendste Gruppe der Dogmatiker, die Schule Ritschls, hat sich in dieser Lage nur gehalten, indem sie alle aus der Historie entspringenden Probleme ebenso von sich abschob, wie sie die aus der Philosophie und der Naturwissenschaft hervorgehenden abgewiesen hatte, womit sie schließlich bei einer großen Armut an Problemen anlangte." Der "jungen" Theologengarde dagegen komme es darauf an, "die lebendige Schätzung des christlich-religiösen Lebens mit der Erkenntnis zu vereinigen, daß alles religiöse Leben der Menschheit den gleichen Methoden der Forschung unterliegen muß, und daß die Würdigung des Christentums als der tiefsten uns geschenkten religiösen Wahrheit mit den aus den Analogien des übrigen Geschehens geschöpften Methoden und Forderungen der historischen Einzelforschung sich nicht entzweien darf. [...] Es gilt, die allgemeinen religionsgeschichtlichen Methoden, denen wir außerhalb des christlichen Gebietes alle Erfolge verdanken, und denen auch das Maß geschichtlichen Verständnisses, das wir auf christlichem Gebiete besitzen, teils willig, teils widerwillig verdankt wird, ohne jeden Vorbehalt anzuwenden und zu sehen, was dabei herauskommt, eine Aufgabe, deren Lösung von der Dogmatik der Schule Ritschls überall im Keime erstickt wird."
[Ernst Troeltsch, Zur theologischen Lage, in: ChW 12 (1898), Sp. 627-631.651-657; hier 629f.]
Die Forderung Troeltschs nach radikaler historischer Forschung ohne dogmatische Rücksichten macht noch einmal die Abgrenzung von Ritschl und dessen Anhängern deutlich.
Alf Özen, 1996
- Die Bildung einer eigenständigen Ausrichtung, der "Religionsgeschichtlichen Schule" (1898-1903)
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Der Bruch mit den "Ritschlianern" leitete 1898 eine Phase der Identitätsfindung ein, die bis 1903 andauerte. Daß die Befreiung zu historischer Forschung wesentlich neue Ergebnisse gerade auf dem Gebiet der biblischen Wissenschaften bringen würde, war Befürwortern wie Gegnern der "religionsgeschichtlichen Methode" bewußt. Schließlich lagen bahnbrechende Werke von Mitgliedern der "kleinen Göttinger Fakultät" schon seit längerem vor [z.B. Wilhelm Bousset, Jesu Predigt im Gegensatz zum Judentum, Göttingen 1892; Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen 1895; Ernst Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: ZThK 5.6 (1895.96); Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892; ders., Die Nachfolge Christi und die Predigt der Gegenwart, Göttingen 1895 und William Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897] .
Die Abgrenzung zwischen den liberalen Theologen unterschiedlicher Ausrichtung verschärfte sich, wobei es zunächst unklar blieb, ob eine der theologischen Richtungen sich gegen die anderen würde durchsetzten können. Die religionsgeschichtliche Richtung begann, eigene Organisationsstrukturen auszubilden. Eigene Publikationsorgane wurden gegründet (als erstes 1897/98 die von Wilhelm Bousset und Wilhelm Heitmüller herausgegebene "Theologische Rundschau"), deren Zielgruppe Pfarrer und Religionslehrer waren. Auch die Vortragsaktivitäten wurden nun zum Teil zentral koordiniert.
Neben weiteren Untersuchungen zum zeitgenössischen Judentum und der hellenistischen Religion entstanden programmatische apologetische Schriften zur Rechtfertigung der religionsgeschichtlichen Methode. Der religionsgeschichtliche Ansatz führte in dieser Zeit zu einer vehement geführten Debatte um die Absolutheit des Christentums. Diese gipfelte in der kontroversen Diskussion um Ernst Troeltschs Vortrag und Buch "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" (Tübingen 1902).
Erst 1902/3 kann von der eigentlichen "Religionsgeschichtlichen Schule" gesprochen werden [Die Entstehung des Begriffs "Religionsgeschichtliche Schule" ist weiterhin ungeklärt. Die erste überlieferte Erwähnung stammt aus einem Brief von Hermann Bousset, dem Bruder Wilhelms, an den Verleger Gustav Ruprecht in Göttingen vom 26.2.1903 (abgedruckt in Lüdemann/Schröder, S. 16)] . Bahnbrechende Publikationen hatten die Eigenständigkeit der religionsgeschichtlichen Richtung erwiesen. Der Machtkampf innerhalb der "liberalen" Theologie war vorüber und endete in einem Nebeneinanderexistieren der "Ritschl'schen" und der "religionsgeschichtlichen" Richtung. Deren Hauptvertretern, überwiegend Mitglieder der ehemaligen "kleinen Göttinger Fakultät", schlossen sich weitere Theologen und Religionslehrer an - zum ersten Male besonders auch direkte Schüler der ersten Generation. Erst durch diese Entwicklung wurde die religionsgeschichtliche Bewegung tatsächlich zur "Schule".
Doch auch zur "Schule" in einem anderen Sinn entwickelten sie sich jetzt: Konstitutiv wurde das Bestreben, die teilweise revolutionären Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um so das religiöse Bewußtseins in allen Bevölkerungsschichten zu erweitern. Mit der Schaffung von weiteren Publikationsorganen zielten sie ab 1903 speziell auf "gebildete Laien" als Leserschicht; die kirchliche/gemeindliche Ebene wurde nun mehr und mehr verlassen. Die populärwissenschaftlichen Publikationen der "Religionsgeschichtlichen Schule" - Buchreihen wie die "Religionsgeschichtlichen Volksbücher", die "Lebensfragen", die "Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" (FRLANT) oder das "Göttinger Bibelwerk", aber auch ihr großes Lexikonwerk "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" - fanden zunehmend regen Absatz. Damit avancierte die "Religionsgeschichtliche Schule" zu einem Führer der "Volksbildung".
Alf Özen, 1996
- Der Absolutheitsanspruch des Christentums
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
Bald nach ihrer Habilitation hatten die meisten Mitglieder der "kleinen Fakultät" Göttingen verlassen: Ernst Troeltsch wurde 1892 nach Bonn berufen, William Wrede 1893 nach Breslau. Heinrich Hackmann ging 1894 als Pfarrer nach Schanghai, Johannes Weiß erhielt 1895 ein Ordinariat in Marburg. Alfred Rahlfs verblieb in Göttingen, widmete sich jedoch bald ausschließlich der Weiterführung der Septuaginta-Studien seines verstorbenen Lehrers de Lagarde. Als einziges aktives Mitglied der "kleinen Fakultät" wirkte Wilhelm Bousset weiter in Göttingen und rückte nach über fünf Jahren als Privatdozent in der Nachfolger von Johannes Weiß zum Extraordinarius auf.
Troeltsch erinnerte sich im Rückblick, daß Bousset lange und schwer darunter gelitten hatte, sich in kümmerlichen Verhältnissen durchkämpfen zu müssen [So in Ernst Troeltsch, Die "kleine Göttinger Fakultät" von 1890, in: ChW 34 (1920), Sp. 281-283 ; hier, Sp. 283; wieder abgedruckt in: Lüdemann/Schröder, S. 22f.] . Diese Situation bestand auch ähnlich während seines Extraordinariats bis 1916 unverändert fort, bevor er endlich - vier Jahre vor seinem Tod - eine ordentliche Professur in Gießen antreten durfte.
Seine eigene Forschungsarbeit setzte er auch nach dem Weggang der Freunde aus der "kleinen Göttinger Fakultät" unvermindert fort. Mitte der 90er Jahre war bei ihm die Vorstellung vom Christentum als "synkretistischer Religion" voll entwickelt. Der Vergleich verschiedener Religionen miteinander war zu einem Mittel geworden, die Entstehung des Christentums durch Untersuchung der in ihm nachweisbaren äußeren Einflüsse zu erklären. Das Christentum wurde von Bousset dabei als die höchste und vollkommenste Entwicklungsstufe aller bekannten Religionen angesehen. Er erkannte die Konsequenzen dieser Schlußfolgerung genau:
"[...] Freilich stehen wir damit vor einer neuen Problemstellung. Wird es gelingen auf Grund jener religionsgeschichtlichen Erkenntnis doch den absoluten Wert des Evangeliums u. der Person Jesu zu behaupten? - Das ist die Lebensfrage für Theologie und Kirche. - Ich meine es wird und muß gelingen, ich hoffe es bestimmt, wenn mir auch noch die bestimmte Formel fehlt. Denn eins ist mir auch auf der andern Seite klar geworden und immer klarer: Die unvergleichliche Höhe der Religion des alten und neuen Testaments. Ich habe gewiß nicht als 'apologetischer Jünger' (Tröltsch) [sic!] die Religionsgeschichte durchstreift, die Beobachtung hat sich mir fast möchte ich sagen wider Willen aufgedrängt. Es ruht ein ganz eigentümliches Geheimnis gerade auf diesem Teil der Religionsgeschichte der sogenannten Offenbarungsreligion. Gerade wenn man die Psalmenfrömmigkeit mit der assyrischen Psalmenlitteratur vergleicht, so staunt man darüber was der hebräische Geist aus jenen Ansätzen gemacht hat. Genesis 1. wird, wenn man in ähnlicher Art vergleicht, ebenfalls eine gewaltige That. Und je länger man in die dunkle lichtlose Welt des Judentums hineinschaut, desto mehr erscheint das Evangelium als der Aufgang aus der Höhe, der leuchtende strahlende Stern. Kein einzelner Gedanke fast in dem ganzen Gebilde neu, und doch das Ganze eine Erscheinung höherer unvergleichlicher Art. - Und beim Evangelium darf man wieder nicht nur auf den Anfängen seinen Blick ruhen lassen. [...]
Für mich wird Paulus mehr u. mehr der Gipfelpunkt der Religionsgeschichte, [...] Denn er ist wie kein andrer der Prediger der Erlösung. Der Gedanke der Erlösung aber ist doch recht eigentlich das Centrum der Religionsgeschichte, und der Kernpunkt aller Religion. Alle Religion ist ein Hinausahnen und Streben des Menschen aus seiner Welt, u. Sehnsucht nach einer andern Welt voll höherer Mächte u. besserer Güter, mag nun 'diese' den Menschen bekannte u. vertraute Welt eine Hand breit Erde sein und die wenigen Geräte mit denen er sie bearbeitet, oder der Blick der Menschen sich erweitert haben über die Sternenwelt. Mag 'jene' Welt beginnen mit den Bergen und Wäldern in denen der Mensch Geister hausen sieht, oder mit den leuchtenden strahlenden, segnenden Gestirnen, oder mag er sie suchen u. glauben jenseits von Raum u. Zeit. [...] Und so ist in der That Römer 8 die Krone der Religionsgeschichte."
[Brief von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, 29.12.1897 (UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151).]
Bousset weist hier auf eine oben bereits erwähnte Konsequenz der religionsgeschichtlichen (hier wohl besser: religionsvergleichenden) Forschungsmethode hin: Die Erkenntnis einer Absorbierung "fremdreligiöser" Elemente in der Entwicklung zum und durch das frühe Christentum sowie der Geschichtlichkeit auch der christlichen Religion mußte in der letzten Konsequenz den Absolutheitsanspruch des Christentums gegenüber anderen Religionen gefährden.
Für Bousset blieb das Christentum jedoch trotz seines auf die Religion übertragenen Evolutionsgedankens die nicht überbietbar höchstentwickelte Form von Religion: "Zwingt uns die alles in Fluß setzende Geschichtsforschung nicht zu der Anerkennung, daß auch die christliche Religion nur eine vorübergehende überbietbare Form der Religion sei [...]? Ich glaube nicht" [Wilhelm Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, S. 260; Hervorhebung im Original] . In diesem Punkt unterscheidet sich Bousset von seinem Freund Troeltsch, der zwar die praktische, aber keine theoretische Absolutheit des Christentums gelten läßt, da dem Christentum aufgrund der Entwicklung von Geschichte (und darin sei die Religion immer eingeschlossen) nur die relativ höchste Stellung zukommen kann: "Eben deshalb ist auch mit keiner strengen Sicherheit zu beweisen, daß es der letzte Höhepunkt bleiben müsse und daß jede Überbietung ausgeschlossen sei" [Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, Tübingen/Leipzig 1902, S. 94; Hervorhebung im Original] .
Auch das Argument einer göttlichen Offenbarung im Christentum, die es über alle anderen Religionen erhöbe, ließen die "Religionsgeschichtler" in dieser Form nicht gelten: "Die religionsgeschichtliche Richtung behauptet mit aller Energie eine lebendige und wirkliche Offenbarung Gottes. Was wir, Tröltsch [sic!] und jeder, der sich in unserem Kreise zu dieser Frage geäußert, verwerfen, und worauf unsere Gegner allerdings alles Gewicht legen, ist die Annahme eines absoluten Unterschiedes zwischen der spezifischen Offenbarung Gottes in Christo [...] und der allgemeinen göttlichen Offenbarung in den Religionen der Völker und die Behauptung, daß erstere von letzterer nicht blos graduell sondern toto genere verschieden sei" [Wilhelm Bousset, Die Mission und die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1907, S. 7; Hervorhebung im Original. Vgl. zu diesen Fragestellungen auch Gunnar Sinn, Christologie und Existenz, TANZ 4, Tübingen 1992, S. 16f., der ebd. Anm. 104 darauf hinweist, daß schon Johannes Weiß in seiner 7. Promotionsthese von 1888 bemerkt: "Der Satz Kählers [...]: 'Alles heidnische, d.h. nicht christliche religiöse Leben entbehrt der Offenbarung' verstösst gegen die christliche Weltanschauung" (abgedruckt in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.], Troeltsch-Studien I, Gütersloh 1982, S. 296); vgl. auch das zum Bruch mit den Ritschlianern Ausgeführte.]
Der Gedanke, daß die verschiedenen Religionen der Welt im Grunde nur unterschiedliche Entwicklungsstufen desselben menschlichen Erfahrens darstellen, ist bei allem historischen Forschungsinteresse der "Religionsgeschichtler" nur unter Berücksichtigung des herrschenden Zeitgeistes vollständig zu begreifen: Die Darwin'sche Entwicklungslehre mit ihrer Behauptung eines gleichzeitigen Nebeneinanders von in unterschiedlichen Entwicklungsstufen vorhandenen, ansonsten aber verwandten Phänomenen (Affe - Menschenaffe - Mensch) wird auf die gleichzeitige Existenz verschiedener Religionsstufen projiziert (primitive Religion - Buchreligion - Christentum). Hier muß die "Religionsgeschichtliche Schule" ganz als ein Produkt ihrer Zeit verstanden werden. Dies sah auch Alfred Jeremias ähnlich, der einen solchen Ansatz ablehnt:
"Die 'religionsgeschichtliche Schule' hat in dem ernsten Bestreben nach Verständigung mit den 'Gebildeten' unserer Zeit die Forderung aufgestellt, man müsse bei der Religionsvergleichung darauf verzichten, das Christentum als 'absolute Größe' anzusehen, man dürfe ihm keine 'Vorzugsbedingungen' einräumen. Es zeigt sich in diesem Verlangen die Konsequenz der auf die Religionsgeschichte übertragenen Evolutionstheorie"
[Alfred Jeremias, Babylonisches im Neuen Testament, Leipzig 1905, S. 1; zitiert nach Lüdemann/Schröder, S. 17).]
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse schienen mit den bestehenden Überzeugungen des Christentums unvereinbar zu sein. Im allgemeinen
"[...] entsprach [es] der Neigung der Zeit, das Christentum nicht als lebenschaffende Kraft, sondern als intellektuelle Weltanschauung anzusehen, die aber vor den Grundideen der Naturwissenschaften und der kritischen Philosophie nicht bestehen könne, die von der Geschichte wie der Entwicklungslehre bestritten und überholt, gegenüber der Freiheit und Unbefangenheit des modernen Lebens veraltet und unhaltbar sei."
[Johannes Scholz, Geschichte der Burschenschaft Germania in Göttingen. Zweiter Teil, Neustrelitz 1931, S. 10.]
Schon seit den Jahren des "Eichhorn-Kreises", aber besonders jetzt in einer Zeit, in der die radikale historische Methode der "kleinen Göttinger Fakultät" das überkommene Bild des Christentums in Frage stellte, war die in der Theologie der Zeit oft geforderte Entscheidung eines "entweder - oder" von naturwissenschaftlichem bzw. religiösem Weltbild eine durchaus grundsätzliche. Die Religionsgeschichtler waren in dieser Frage durch ihre Lehrer vorgeprägt. Eingangs wurde Albert Eichhorns Schätzung von Hermann Lotze erwähnt. Eichhorn hatte gesagt: "Seine Weltanschauung ist die meinige" [Lebenslauf Eichhorns. Abgedruckt bei Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1960, S. 141-152; hier S. 141.] (s. oben S. 36). Und Lotzes Lebenswerk ist "als ein großangelegter Syntheseversuch von moderner Naturwissenschaft und philosophischer Forschung mit einer auf der Höhe der Zeit stehenden Religiosität zu charakterisieren" [Lüdemann/Schröder, S. 36.].
In Göttingen beschäftigte sich der seit 1895 als Stiftsinspektor tätige Rudolf Otto, der auch schon 1889 und 1891/92 hier studierte und mit der "kleinen Fakultät" seither bekannt war, mit diesem Fragenkomplex. Otto war - wie sein Freund Heinrich Hackmann - von fernen Ländern und fremden Kulturen fasziniert. Er unternahm Reisen nach Griechenland, Palästina, Ägypten, aber auch nach China und Japan. Bousset und Otto waren bald eng befreundet. Ihre Ansichten über das Christentum als synkretistische Religion, aber auch über den Urgrund aller Religion(en) in einem gemeinsamen Kern und dem Christentum als seiner höchsten Entwicklungsstufe, führte sie zusammen.
Otto widmete dem Thema Religion und Darwinismus später einige Publikationen: Darwinismus von heute und Theologie, in: ThR 5 (1902), S. 483-496; Darwinismus und Religion, in: Abhandlungen der Fries'schen Schule NF 3, Göttingen 1909, S. 14-40 sowie Goethe und Darwin. Darwinismus und Religion, Göttingen 1909.
Aus einer seiner ersten Vorlesungen entstand später Ottos gleichnamiges Buch "Naturalistische und religiöse Weltansicht", in dem er ein Miteinander beider "Weltansichten" zu erweisen suchte. Denn "in Wahrheit sind die reinen Ergebnisse der Forschung weder heute noch früher 'aggressiv', sondern an und für sich gegen religiöse sogut wie gegen jede idealistische Betrachtung in der Tat ganz neutral und sie überlassen es sozusagen den höheren Betrachtungsweisen, wie diese den Stoff in ihre Fächer und unter ihre Gesichtspunkte aufnehmen wollen" [Rudolf Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904, S. 4].
Für Ottos theologische Entwicklung waren die Freundschaft und der Gedankenaustausch mit Bousset immens wichtig. So weist Verheule mit Recht darauf hin, daß Bousset den Anschauungen Ottos über das Heilige, die dieser später in seinem gleichnamigen Hauptwerk entfaltete [Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917] , vorgearbeitet habe:
"Die Verwandtschaft zwischen einer Äußerung wie 'Es ist zunächst ( ) das Fremdartige und Wunderbare, das Unberechenbare und Übermächtige, das religiöse Verehrung auf sich zieht' [W. Bousset, Das Wesen der Religion, 3. Aufl. S. 13] und R. Ottos Auffassung über das Heilige als das 'Ganz Andere', das 'Mysterium tremendum, fascinans und augustum' [R. Otto, Das Heilige, 17-22. Aufl., Gotha 1929, z.B. S. 31, (Das Ganz Andere), S. 23 (Das Übermächtige) und passim (1. Aufl. 1917)] ist ohne weiteres klar und wundert nicht, wenn man den freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Religionshistorikern Rechnung trägt."
[Anthonie Frans Verheule, Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973, S. 295, folgt hier Kurt Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zum Problem der Religionswissenschaft, SSAW.PH 107/H.1, Leipzig 1962, S. 53.]
Alf Özen, 1996
- Die Popularisierung theologischer Forschungsergebnisse
(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)
1897 kehrte Wilhelm Heitmüller nach Göttingen zurück, um sich für das Neue Testament zu habilitieren. Er wurde der Nachfolger von Rudolf Otto als Stiftsinspektor. Bereits 1891 hatte er in Göttingen studiert und war seitdem mit der "kleinen Göttinger Fakultät" bekannt; seine eigenen theologischen Untersuchungen hatten ihn jedoch unabhängig von dieser zu ähnlichen Erkenntnissen geführt:
"Es ist mir in meiner Entwicklungszeit nicht vergönnt gewesen, einen Lehrer zu finden, der mich inbezug auf Arbeitsgebiet u. -weise entscheidend beeinflußt u. dem ich mich hätte anschließen können. Wohl meiner niedersächsischen Art entsprechend habe ich mir meinen Weg mühsam u. tastend selbst suchen u. bahnen müssen. Die Richtung wurde mir gewiesen durch das Studium der alten Geschichte u. der Klass.[ ischen] Philologie. Daß das Neue Testament nur aus seiner geschichtl.[ichen] , d.h. also religionsgeschichtl.[ichen] Umgebung geschichtl. verstanden u. die Eigenart des alten Christentums nur durch die Vergleichung mit seiner religionsgeschichtl. Folie erfaßt werden könne, war mir als Historiker früh selbstverständlich. So kam ich, um des N.T.'s willen, zum Studium nicht nur des Spätjudentums, sondern auch der Religionsgeschichte der hellenist.[ ischen] Welt, weiter der allgem.[ einen] Religionsgeschichte. Das, was man die 'religionsgeschichtliche Methode' genannt hat, erschien mir als Forderung des geschichtl. Studiums des N.T.'s geboten, ehe ich noch mit dem Göttinger Kreise bekannt wurde, in dem die damals unter Eichhorn's Einfluß bei den Theologen aufkommende 'religionsgeschichtl.' Methode als etwas Neues mit Begeisterung gepflegt wurde; u. die Antithese, die in diesem Kreise, der sich nicht nur von der traditionellen Theologie, sondern auch bis zu einem gewissen Grade von Ritschl hatte frei machen müssen, mit dieser Behandlung des Neuen Testaments u. der Geschichte des Christentums überhaupt unmittelbar verbunden war, war mir fremd."
[Lebenslauf Heitmüllers aus Bonn (ca. 1921), Album Professorum der Theol. Fakultät, Universitätsarchiv Bonn; Hervorhebungen im Original.]
Solchermaßen ähnlich "radikal" wie Bousset, fanden die beiden bereits 1891 schnell zueinander und waren seitdem eng befreundet. Dies war neben ihren gleichgelagerten theologischen Interessen auch der Tatsache zu verdanken, daß Heitmüller in Göttingen als Kartellphilister am Leben der Burschenschaft "Germania" aktiv teilnahm und dort neben Bousset zur "Führungspersönlichkeit" aufstieg. Bousset und Heitmüller führten die "religionsgeschichtlichen" Untersuchungen zum frühen Christentum über die Beschäftigung mit "spätjüdischen" Einflüssen endgültig hinaus. Speziell der hellenistische Hintergrund des frühen Christentums und der neutestamentlichen Schriften trat jetzt ins Zentrum ihres Forschungsinteresses. Boussets Hauptwerk "Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus" (Göttingen 1913) stellt später die Ergebnisse seiner/ihrer jahrelangen Beschäftigung mit dem Hellenismus dar. [Ein Jahr zuvor hatte Heitmüller - jetzt in Marburg tätig - seine eigenen Erkenntnisse bereits skizzenhaft publiziert ("Zum Problem Paulus und Jesus", in: ZNW 13 [1912], S. 320-337). Nach der Veröffentlichung von Boussets "Kyrios Christos" vernichtete Heitmüller sein fast fertiges Buchmanuskript zum selben Thema, da es zu viele Überschneidungen mit diesem gegeben hätte.]
Gemeinsam gingen von den beiden Göttinger Theologenfreunden wichtige Impulse zur Popularisierung der theologischen Forschungsergebnisse aus, die ein Merkmal der gesamten "Religionsgeschichtlichen Schule" war. So gründete Wilhelm Bousset zusammen mit Wilhelm Heitmüller 1897 die "Theologische Rundschau", die bis 1917 im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erschien, bevor sie wegen Papiermangels im Ersten Weltkrieg vorübergehend eingestellt werden mußte. Sie war das erste regelmäßig erscheinende Organ, das von "Religionsgeschichtlern" selbst ins Leben gerufen wurde.
Schon lange hatten die beiden die Notwendigkeit eines Publikationsorgans diskutiert, das die Fülle von Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt für Theologen, speziell aber auch für Pfarrer und Religionslehrer, die sich nicht intensiv mit Fachpublikationen auseinandersetzen konnten, sondierte und rezensierte. Daher machte es sich die "Theologische Rundschau" zur Aufgabe, "die große Kluft, die sich allmählich zwischen der theologischen Wissenschaft und dem praktischen Amt aufgethan hat, soweit als möglich zu überbrücken" [So in: "Zur Einführung", ThR 1 (1898), S. 1] . Es war beabsichtigt, diejenigen Theologen,
"welche nicht mehr in unmittelbarer Verbindung mit der Universitäts-Theologie stehen und durch ihre Berufsaufgaben daran gehindert sind, die wissenschaft- lich-theologische Arbeit auf allen ihren Gebieten durch das dazu erforderliche Einzelstudium zu verfolgen, über die Methode und Arbeit der theologischen Wissenschaft, über die Fortschritte und Hauptströmungen in den einzelnen Disziplinen zu unterrichten und auf dem Laufenden zu halten."
[A.a.O., S. 2.]
Während sich diese Zeitschrift noch hauptsächlich an "Fachleute" oder zumindest "Interessierte mit Vorkenntnissen" richtete, verfolgte die "Religionsgeschichtliche Schule" durch ihre rege Vortragstätigkeit jedoch das noch weit ehrgeizigere Ziel der Aufklärung theologischer Laien, der "gebildeten Schichten" des Volkes. Besonders eindringlich forderte Hermann Gunkel in seinem "Notschrei nach volkstümlicher theologischer Literatur" von 1900:
"Wollte Gott, ich hätte eine Stimme, die an die Herzen und Gewissen der theologischen Forscher dringt, so wollte ich Tag und Nacht nichts Anderes rufen, als dies: Vergeßt nicht eure heilige Pflicht an eurem Volk! Schreibt für die Gebildeten! Redet nicht soviel über Litterarkritik, Textkritik, Archäologie und alle andern gelehrten Dinge, sondern redet über R e l i g i o n ! Denkt an die H a u p t s a c h e ! Unser Volk dürstet nach euren Worten über die R e l i g i o n und ihre G e s c h i c h t e ! Seid ja nicht zu ängstlich und glaubt ja nicht, das, was ihr erkannt habt, dem Laien verschweigen zu müssen! Wie wollt ihr V e r t r a u e n haben, wenn ihr bei den letzten Fragen ausweicht? Jetzt ist es noch Zeit. Bald ist es zu spät. Wenn ihr aber schweigt, dann reden die Schwätzer."
[Hermann Gunkel, Ein Notschrei aus Anlaß des Buches: Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten. Von Troels-Lund, Leipzig, Teubner 1899, in: ChW 14 (1900), Sp. 58-61, hier Sp. 60; Hervorhebungen im Original. Vgl. zum Folgenden bes.: Nittert Janssen, Popularisierung der theologischen Forschung. Breitenwirkung durch Vorträge und "gemeinverständliche" Veröffentlichungen, in: Lüdemann/Schröder, S. 109-136.]
Ein Vortrag Gunkels vor dem "Wissenschaftlichen Predigerverein zu Hannover" wurde später (1903) zur Grundlage für Gunkels programmatisches Buch "Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des neuen Testaments", das als Nr. 1 eine neue Publikationsreihe "Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" (= FRLANT) im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen begründete, die bis heute existiert. Als Mitherausgeber neben Hermann Gunkel fungierte dessen Freund Wilhelm Bousset [Nr. 2 der Reihe stammte von Wilhelm Heitmüller, Nr. 3 von Johannes Weiß. Auch andere Religionsgeschichtler beteiligten sich an diesem Unternehmen] .
Während diese Reihe noch recht fachspezifisch orientiert war, zielten die wenig später (1904) gegründeten "Religionsgeschichtlichen Volksbücher" mit ihrem billigen Preis und geringem Umfang auf die breite Masse des Volkes ab; sie wollten wahre "Volksbildung" leisten. Diese Reihe ging aus der Vortragstätigkeit des "begabten Redners" [so Anthonie Frans Verheule, Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973, S. 30. Hier wird auch der Grund für die Vortragstätigkeit Boussets genannt, indem aus den Protokollakten der Landessynode 1906, S. 455 zitiert wird: "Ich brauche hier ja nur einige Andeutungen zu machen, brauche nur hinzuweisen auf die Entfremdung der Arbeitermassen gegenüber Kirche und Religion, brauche nur hinzuweisen auf die Tatsache, daß gerade so viel Männer aus allen Kreisen der Kirche fernbleiben und dem Glauben fernstehen. ( ) Diese Not hat uns hinausgetrieben aus dem akademischen Berufe, dessen Stille wir wahrlich ungern verließen"] Boussets hervor und wurde zunächst vom Verlag Gebauer-Schwetschke in Halle, dessen Inhaber sein Bruder Hermann war, herausgebracht und 1906 von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen übernommen.
Die endgültige Konzeption der Reihe und deren Herausgabe übernahm Friedrich Michael Schiele (1867-1913), Oberlehrer in Marburg. Das Ziel der "Volksbücher" beschrieb Schiele in einem Aufruf zur Mitarbeit 1904 folgendermaßen:
"Sie wollen Religion, Christentum und Kirche historisch und kritisch verstehen lehren, aber nicht verteidigen. Das Verständnis, das sie vermitteln, suchen sie bei der strengsten Wissenschaft von der Geschichte der Religion. Sie werden deshalb (ohne es zu wollen) im Volke vieles zerstören, was heute zwar mit dem theologischen Anspruch auftritt, bewiesene Wahrheit zu sein, in Wirklichkeit aber den Forschungen der gelehrten Welt nicht standgehalten hat. Sie werden (ohne danach zu streben) im Volke das befestigen, was durch ehrliche Wissenschaft und ihr gegenüber sich als Wirklichkeit erwiesen hat. Die Absicht der Volksbücher ist lediglich die: auf offene Fragen - offen und bescheiden wissenschaftlich begründete Antworten zu geben."
[Abgedruckt bei Nittert Janssen, Popularisierung der theologischen Forschung. Breitenwirkung durch Vorträge und "gemeinverständliche" Veröffentlichungen, in: Lüdemann/Schröder, S. 116.]
Boussets Volksbuch "Jesus" hat dieses Ziel sicherlich erreicht: bis 1913 wurden in drei Auflagen insgesamt 30.000 Exemplare gedruckt. Zu den späteren Mitarbeitern der "Volksbücher" gehörten u.a. fast alle Mitglieder der "Religionsgeschichtlichen Schule".
Einher mit der Massenverbreitung wissenschaftlich-theologischer Forschungsergebnisse ging der Gedanke, den Wortlaut der Bibel für die Gegenwart verständlich wiederzugeben und zu erklären. Auch dieser Gedanke entstammte der (Arbeits-)Gemeinschaft Boussets mit Heitmüller, deren Diskussionen um theologische und politische Themen des öfteren im Hause des Verlegers Gustav Ruprecht stattfanden. Heitmüller selbst wohnte hier über Jahre hinweg, Bousset - aber auch Otto und zuvor die übrigen Göttinger "Religionsgeschichtler" - verkehrten hier regelmäßig.
Dort erschienen ab 1904/05 "Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt", die sog. "Gegenwartsbibel" oder auch "Ketzerbibel". Diese wurde herausgegeben von Johannes Weiß, der eine entsprechende Offerte des Verlagshauses annahm. Doch geht ihr Plan auf Bousset und Heitmüller zurück, wie letzterer selbst betont:
"Mit ihm [d.i. Bousset] entwarf ich auch den Plan der sog. 'Gegenwartsbibel' (Die Schriften des N.T., neu übersetzt u. für die Gegenwart erklärt), deren Redaktion auf meine Bitte Joh. Weiß übernahm, bis sie nach dessen Tode mit der 3. Aufl. zu uns u. nach Boussets Tode zu mir allein zurückgekehrt ist."
[Lebenslauf Heitmüllers aus Bonn.]
Ihr Ziel war es, die Schriften des Neuen Testamens für die "breite Masse" verständlich zu übersetzen und zu kommentieren, eine christlich-religiöse "Volksaufklärung":
"Mit dieser neuen Übersetzung und Erklärung des Neuen Testaments soll der Versuch gemacht werden, dem gebildeten und über die Probleme unsrer Religion nachdenkenden Leser ein lebendiges geschichtliches Verständnis der Urdokumente des Christentums zu erschließen. G e s c h i c h t l i c h ist diese Erklärung, weil sie dazu anleiten will, die Schriften und die Persönlichkeiten aus ihrer Zeit und Umgebung zu verstehen; l e b e n d i g soll sie sein, weil die Verfasser sich bemühen, das eigenartige kraftvolle religiöse Leben, das in diesen Büchern einen unübertroffenen Ausdruck gefunden hat, nachzuempfinden und ein Gefühl für seine Größe und Innerlichkeit in dem verständnisvollen Leser zu wecken. Bei ihrer Arbeit wissen die Mitarbeiter sich frei von jeder Rücksicht auf theologische Schulen und Parteien; wie sie bestrebt sind, das Neue Testament ganz ohne Voreingenommenheit auf sich wirken zu lassen, so wollen sie auch dem Leser nur die Sache selber zeigen, wie sie ist. Sie wollen ihm helfen, das Neue Testament mit eigenen Augen zu lesen, und nicht durch die Brille einer anerzogenen Gewöhnung. Die hier vorgetragene Auffassung ist nicht die herkömmliche, aber nur, weil die Bibel selber anders ist, als die dogmatischen Theorien über sie, mit denen wir aufgewachsen sind. Vieles, was dem Leser bisher selbstverständlich erschien, wird dabei allerdings zweifelhaft werden, manches, woran sein Herz hängt, wird fallen; aber dafür wird er sehr vieles gewinnen, was ihm unbekannt war; vor allem wird das Wesentliche und Ewige in diesen Schriften deutlich werden, nachdem wir das Zeitliche und Unwesentliche als solches erkannt haben."
[Klappentext der 1. Lieferung (November 1904); vollständig abgedruckt bei Janssen, S. 127; Hervorhebung im Original.
Wie sehr Bedarf für ein solches Unternehmen bestand, verrät eine Notiz von Bousset auf einer Postkarte an Wernle: "Von unserm neuen Kommentarwerk sind bereits vor der ersten Lieferung über 1000 Exemplare bestellt. Ein buchhändlerischer Erfolg ersten Ranges" (Postkarte von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, Göttingen 20.11.1904, UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151; Hervorhebung im Original).]
Von den Mitgliedern der "Religionsgeschichtlichen Schule" beteiligten sich an diesem Unternehmen: Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel, Wilhelm Heitmüller und Johannes Weiß, sowie der "Germane" und Bousset-Schüler Wilhelm Lueken. Bis 1928 wurden 27.000 Stück der "Gegenwartsbibel/Ketzerbibel" verkauft.
Die beiden Extraordinarii Wilhelm Bousset und Rudolf Otto, sowie der Privatdozent Wilhelm Heitmüller, bildeten über viele Jahre hinweg den Göttinger Zweig der "Religionsgeschichtlichen Schule". 1908 wurde Heitmüller als Nachfolger von Johannes Weiß nach Marburg berufen. Auch Bousset und Otto verließen schließlich Göttingen: Otto ging 1915 nach Breslau, Bousset 1916 nach Gießen.
Alf Özen, 1996
- Vier Prinzipien der Arbeitsweise der "Religionsgeschichtlichen Schule" und ihre "theologische" Zähmung
(=> Auszug aus: "Die 'Religionsgeschichtliche Schule" und die Neutestamentliche Wissenschaft, STRS 1)
Die exegetischen Prinzipien der einzelnen Mitglieder der "Religionsgeschichtlichen Schule" sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Doch vielleicht können sie, wenn man im Rückblick ihre zahlreichen Arbeiten mustert, in viererlei Hinsicht aufgeschlüsselt werden, wobei sich die einzelnen Aspekte überschneiden.
Der erste sei radikal-historisch genannt. "Religionsgeschichtlich" heißt dann: radikal historische Erforschung der eigenen Religion. Man vergleiche etwa die von Hugo Greßmann für Albert Eichhorn überlieferte Frage, ob denn Jesus nun wirklich auferstanden sei [Hugo Greßmann, Albert Eichhorn und Die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, S. 5]. Der darin zum Ausdruck kommende radikale historische Ansatz spiegelt sich z.B. in William Wredes Buch "Das Messiasgeheimnis in den Evangelien" (Göttingen 1901) wider, dessen Ausgangspunkt die Frage ist, "ob Jesus sich für den Messias gehalten und ausgegeben hat" (S. V), und das den Widerspruch im Markusevangelium zwischen den wiederholten Schweigegeboten sowie der oftmaligen Erkenntnis Jesu als dem Messias durch die Dämonischen und die Jünger mit der Hypothese erklärt: Das Messiasgeheimnis sei dogmatischer Ausgleich des Messiasglaubens der frühesten Gemeinde mit einem unmessianischen Leben Jesu. Den eventuellen Einspruch zeitgenössischer Kritiker gegen diese These weist Wrede im voraus mit den Worten ab: "Wir können die Evangelien nicht anders machen; wir müssen sie nehmen, wie sie sind. Mag man darum meine Kritik radikal nennen, so habe ich nichts dagegen. Ich halte mich daran, dass die Dinge selbst manchmal am radikalsten sind und dass es dann kaum ein Vorwurf ist, sie hinzustellen, wie sie sind" (S. VI).
In ähnlicher Weise wie bei Wrede schlägt sich dieser historische Neuansatz in Johannes Weiß' These nieder, Jesu Verkündigung sei vornehmlich zukunftsorientiert gewesen, denn ihr Gegenstand, die Gottesherrschaft, bezeichne das unmittelbar bevorstehende, durch einen übernatürlichen Eingriff anbrechende Gottesreich und habe nichts mit einer innerweltlichen Kulturentwicklung gemein, wie die liberale Schulexegese im Anschluß an Albrecht Ritschl meinte [Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892].
Damit komme ich zum zweiten Aspekt der exegetischen Prinzipien der RGS: "Religionsgeschichtlich" heißt religionsvergleichend, denn die radikale historische Kritik der RGS führte notwendigerweise zu der gleichzeitigen Bearbeitung verwandter religiöser Phänomene im Umfeld des frühen Christentums. Dieser Arbeitsschritt der RGS gipfelte in dem herausfordernden Satz Hermann Gunkels, das Christentum sei eine synkretistische Religion [Hermann Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Problem des Neuen Testaments, FRLANT 1, Göttingen 1903]. Gunkel wies mannigfache Entsprechungen "christlicher" Ideen zu solchen in orientalischen Religionen auf. So seien die beiden christlichen Zentralvorstellungen von Auferstehung und Christologie bereits - durch orientalische Religionen vermittelt - im Judentum vorhanden gewesen, und Wilhelm Bousset arbeitete einen gnostischen Urmenschmythos heraus, welcher der neutestamentlichen Christologie zugrunde liege. Wilhelm Heitmüller vertiefte Wredes Entdeckung der heidenchristlichen Gemeinde(n) u.a. durch seinen Aufweis von Taufe und Abendmahl als sakramentale Handlungen, die in keinem genetischen Verhältnis zur palästinischen Kirche bzw. zu Jesus ständen. So finde das "sakramentale Essen und Trinken des Leibes und Blutes Christi" seine Erklärung aus dem Studium ähnlicher Phänomene der allgemeinen Religionsgeschichte (z.B. den kannibalischen Opfern der Azteken oder dem Verzehr rohen Fleisches bei den Nomaden des Sinais im Bericht des Nilus) [Wilhelm Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus, Göttingen 1903, S. 40-42.49].
Die radikal historische Kritik hatte in Verbindung mit dem Religionsvergleich drittens ein soziologisches Element zur Konsequenz, z.B. die Identifizierung der Volksfrömmigkeit sowie des Kultus als Erzeuger von religiösen Überlieferungen. So erkannte Bousset apokalyptische Stoffe als Gebilde der Volksfrömmigkeit (Beispiel: die Überlieferung vom Antichristen) und rechnete damit, daß der Stoff über Jahrhunderte tradiert wurde, während Gunkel in seiner genannten Schrift (Anm. 4) die Geschichte von Stoffen wie der Höllenfahrt, der Auferstehung des Christus und des Buches mit den sieben Siegeln sowie ihre Übernahme ins Urchristentum beschrieb. Solche Überlegungen zur Geschichte des Urchristentums führten dazu, vor der Darstellung der Religion und Theologie des Paulus den Kult der hellenistischen Gemeinde zu rekonstruieren, weil der Apostel von dieser im Christentum unterwiesen worden sei. Gegenüber der vorangehenden quellenkritischen Forschung Julius Wellhausens u.a. wurden Bericht und Ereignis nicht mehr gleichgesetzt, sondern radikale Unterscheidungen zwischen literarischer Form und historischem Ereignis eingeführt. Im Gefolge der Entdeckung der Tiefendimension von Geschichte betrachtete man diese nicht mehr nur als Kette von Ereignissen und Taten, die aufgrund von Quellenzeugnissen beschreibbar sind, sondern als eine Konstellation von Zuständen, Sitten und Bräuchen, Normen und Institutionen (vgl. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979, 3.). Die von der RGS inaugurierte Formgeschichte besaß also ein soziologisches Element. Man kann hier förmlich von einem Paradigmenwechsel gegenüber der literarischen Schule des älteren Historismus sprechen, da nun individuelle Strukturen und soziologische Bedingtheiten miteinander verknüpft wurden.
Damit bin ich bei einem vierten (und letzten) Aspekt der Prinzipien der exegetischen Arbeit der RGS angelangt: der Entdeckung des urchristlichen Glaubens als psychologisch zu verstehender Religion, d.h. konkret der Abwendung von aller Theorie zum Primat der Erfahrung.
Das sei an der Göttinger Lizentiatenarbeit von Hermann Gunkel erläutert. Sie trägt den Titel "Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach den populären Anschauungen der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus" (Göttingen 1888). Nach Gunkel haben wir es in der Urgemeinde gar nicht mit einer Lehre vom Heiligen Geist zu tun, sondern hauptsächlich mit "eine(r) Fülle von Schilderungen seiner Wirkungen" (S. 4). Geist bezeichnet dabei ein Primärphänomen, zu dem im Urchristentum - neben Glossalalie, Ekstase, Heilungen - überhaupt alles unerklärlich Gewaltige zu rechnen sei. Eine solche Anschauung von Geist und seinen Wirkungen sei nicht spezifisch urchristlich, "sie durchzieht das ganze A.T., ist dem Judentum der späteren Zeit niemals ganz fremd geworden und konnte auch auf das Verständnis der Griechen rechnen. Wir haben daher das Recht, dieselbe die populäre Anschauung des N.T.lichen Zeitalters zu nennen" (S. 34).
Gunkel meinte, damit die Religion des Urchristentums wiederentdeckt zu haben, die aller Theologie vorgelagert sei. Er identifizierte die Religion als historisch-psychologisches Phänomen, als unmittelbare Erfahrung eines fremden Wesens, einer Macht, die nicht das Ich ist (21890, S. VII), von dem die Lehre oder die Spekulation vom Geiste zu unterscheiden sei, und er ruft seine Leser dazu auf, "den Propheten des alten und den Pneumatikern des neuen Testaments zu glauben, dass es sich hier um wirkliche psychologische Vorgänge handelt" (ebd.).
Andererseits arbeitet Gunkel mit einem zweiten Religionsbegriff und identifiziert Religion mit Sittlichkeit, wie sie in der Bergpredigt und bei Paul Gerhard deutlich wird. Denn Geist und Religion seien nicht identisch; in den großen Grundgedanken der Bergpredigt hörten wir vom Geiste nichts, und Paul Gerhard sei kein Pneumatiker gewesen (vgl. 21890, S. XI). Ja, der unendlich imponierende Eindruck des historischen Jesus habe bewirkt, daß das Christentum seinen historischen Charakter nicht eingebüßt hat - er habe mit einem Wort das Überleben des Christentums erst ermöglicht.
Doch sind diese Bemerkungen nicht zentral in Gunkels Arbeit. Sie sind eher beschwichtigend gemeint und dienen zur Abwehr des Eindrucks, die frühchristliche Kirche sei eine Schar von mehr oder minder Inspirierten gewesen, als stellte eine exaltierte, halbgestörte Erregtheit eines ihrer Hauptkennzeichen dar.
Wilhelm Bousset [Wilhelm Bousset, Besprechung von H. Weinel, Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter bis auf Irenäus, 1899, in: GGA 1901, S. 753-776] schrieb im Einklang mit Gunkel dazu: Es "sind [...], wenn man das Christentum mit der umgebenden Welt vergleicht, [...] jene ekstatischen Wirkungen des 'Geistes' keineswegs etwas dem Christentum eigentümliches [sic!], oder auch in ihm besonders stark hervortretendes [sic!]. Vielmehr bewegt sich die ganze absterbende Frömmigkeit des Hellenentums bis zu ihrer letzten Konzentration im Neuplatonismus in eben dieser Richtung. Wunder und Orakel, Heilungen, ein atavistischer Geister- und Gespensterglaube, Visionen, Ekstase, wilde Verzückungen, - das sind die Charakteristika der dekadenten Religion des Hellenentums. Hier, und wir fügen hinzu, in der Schätzung des Sakramentalen in der Religion liegt gerade das verbindende Band zwischen der Frömmigkeit des Christentums und der es umgebenden Welt des römischen Kaisertums" (S. 763f.). An anderer Stelle führt Bousset aus: "die in Betracht kommenden religiösen Aeußerungen sind doch hüben wie drüben Krankheitserscheinungen und Verzerrungen, im besten Falle Außendinge und Hüllen echten religiösen Lebens. - Es sind hier wie dort gleichsam Fiebererscheinungen der Religion" (S. 765).
Ähnlich äußert sich Adolf Harnack [Adolf Harnack, Rezension von Weinel, Wirkungen (wie Anm. 6), in: ThLZ 24 (1899), Sp. 513-515]: Er meint, daß Gunkels Büchlein über den Geist "in der Geschichte der Theologie unvergessen bleiben wird" (Sp. 515), äußert aber sofort sein Unbehagen gegen derartige Forschungen. Wenn er selbst sich mit den von Gunkel und Weinel angeschnittenen Fragen näher beschäftige, so verursache das ihm "gradezu ein körperliches Mißbehagen" (ebd.). Ihm ist der Logos in der Geschichte des Christentums stärker als der Mythos oder die Sakramente, und "die Geschichte der Theologie und des sittlichen Lebens bleiben als Geschichte der Glaubenserkenntnis und der christlichen Lebensgestaltung doch die vornehmsten Stücke der Kirchengeschichte" (Sp. 515).
Überschaut man die bisher herausgearbeiteten vier Prinzipien der Exegese der RGS, so schält sich in ihnen eine Autonomisierung des historischen Bewußtseins heraus. Doch gleichzeitig gilt: Nicht nur das vierte - alle Prinzipien werden in ihrer Schlagkraft durch ein eigentümliches Jesusverständnis und - damit zusammenhängend - einer von den historischen Ergebnissen seltsam abgehobenen Hermeneutik gezähmt. Die apokalyptischen, sakramentalen, mysterienhaften - kurz: synkretistischen - Elemente des frühen Christentums, für die man den Nachweis ihrer Verbreitung in anderen Religionen und ihrer Verwurzelung in der Gemeinde bzw. ihrem Kult geführt hatte, waren, hermeneutisch gesehen, nur die Schale, die vom Kern zu trennen sei. Letzterer sei vor allem in der ethischen Verkündigung Jesu zu finden. Diese war für die RGS Mitte der Frömmigkeit und Zielpunkt ihrer Verkündigung. Nicht nur wurde Jesus vom zum Teil abwertenden Synkretismus-Urteil ausgenommen, er war auch gegenüber allen andern Persönlichkeiten erhaben.
Die Entdeckung der Gemeinde und des Kultes als Ursprungsort und Sitz im Leben weiter Teile der frühchristlichen Literatur und das Jesusverständnis der RGS klaffen seltsam auseinander. Z.B. steht die Entdeckung der Gemeinde als Mutterboden vieler frühchristlicher Äußerungen in einem merkwürdigen Widerspruch zur Hochschätzung von Persönlichkeiten, besonders der Persönlichkeit und Verkündigung Jesu. Jede neue Richtung, die an die RGS anknüpfen wollte, hatte diesen Widerspruch zu verarbeiten.
Gerd Lüdemann, 1996
- Die Rezeption der "Religionsgeschichtlichen Schule" durch Rudolf Bultmann und seine Schüler
(=> Auszug aus: "Die 'Religionsgeschichtliche Schule" und die Neutestamentliche Wissenschaft, STRS 1)
In einem Aufsatz aus dem Jahre 1924, "Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung" [In: ThBl 3 (1924), S. 73-86 (= Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 91993, S. 1-25)] , legt Rudolf Bultmann Rechenschaft über seine eigene Abkehr von der liberalen Theologie und damit auch von der mit ihr verbundenen RGS ab. Den Vorwurf der jüngsten theologischen Bewegung gegenüber der liberalen Theologie, daß sie - obgleich der Gegenstand der Theologie Gott sei - "nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat" (S. 2), will Bultmann "an der Kritik ihrer Auffassung von der Geschichte" deutlich machen.
Bultmann nennt folgende Fehler der liberalen Theologie:
a) Im Vertrauen darauf, das Jesusbild von der Last der Dogmatik zu befreien und das echte historische Jesusbild, auf das der Glaube sich gründen kann, zu gewinnen, habe man verkannt, daß alle historischen Ergebnisse nur eine relative Geltung haben.
b) Der zweite Fehler in der Geschichtsauffassung der liberalen Theologie bestehe darin, daß ihre historischen Ergebnisse nur relative Größen innerhalb eines großen Relationszusammenhanges seien. Damit werde "das Christentum als innerweltliche, sozialpsychologischen Gesetzen unterworfene Erscheinung aufgefaßt" (S. 5) - Bultmann spricht in diesem Zusammenhang von einem "Geschichtspantheismus" (ebd.) - und letztlich der Mensch vergöttlicht (S. 8).
Bultmanns Aufsatz aus dem Jahre 1925, "Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments" [Wieder abgedruckt bei Jürgen Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil II, München 41987, S. 47-72], beleuchtet einen weiteren Aspekt seines Protestes gegen die liberale Theologie: Die entscheidende Frage bei der Exegese sei, ob wir dem Text "neutral" gegenübertreten und nichts anderes als ein historisches Wissen um das, was er sagt, anstreben, oder ob wir im Verfolg der Wahrheitsfrage von der Haltung des tua res agitur bestimmt sind und die im Text enthaltene Sache zu uns sprechen lassen. Denn die "Geschichte [...] kommt zu Wort nur, wo der Exeget bereit ist, den Text als Autorität reden zu lassen" (S. 58).
Die angeführten Passagen machen hinreichend deutlich, worum es Bultmann in seiner Kritik an der liberalen Theologie geht und wie er deren unzureichende theologische Methode verbessern will: Der Sachanspruch hinter den Texten des Neuen Testaments sei als dem historisch-neutralen Zugriff entzogene Anrede an den Interpreten ernst zu nehmen - tua res agitur. In diesem Grundsatz ist die ganze spätere neutestamentlich-theologische Arbeit Bultmanns bereits enthalten. So stellt in seiner "Theologie des Neuen Testaments" [Erste Lieferung Tübingen 1948; zweite Lieferung Tübingen 1951. Nachweise im Text werden im Folgenden nach der 9. Aufl. 1984, UTB 630, gegeben] das Kerygma von Kreuz und Auferstehung den Terminus technicus der Anrede dar, der die neutestamentlichen Autoren in ihren verschiedenen Theologien oder ihrem Glauben entsprochen haben. Dabei unterscheidet Bultmann scharf zwischen Glaube und Theologie, wobei letztere als Anthropologie zu fassen sei. Zwar sei im christlichen Glauben selbst theologische Erkenntnis enthalten; aber ein wirklich als Theologie zu bezeichnendes Denken liegt erst vor, wenn diese Erkenntnis erhoben werde zur Klarheit bewußten Wissens - und das sei im Neuen Testament nur bei Paulus und "Johannes" der Fall, weil nur hier begriffliche Explikationen des Glaubens auf der Ebene der Existenz zu finden seien.
Bultmanns Methode der Darstellung der Theologie des Neuen Testaments ist vom Interesse der Interpretation geleitet. Von ihm unterscheidet er das Interesse der Rekonstruktion, nämlich der Rekonstruktion vergangener Geschichte. Zwar gebe es "nicht das eine ohne das andere, und beides steht in Wechselwirkung. Aber es fragt sich, welches von beiden im Dienst des anderen steht. Entweder können die Schriften des NT als die 'Quellen' befragt werden, die der Historiker interpretiert, um aus ihnen das Bild des Urchristentums als eines Phänomens geschichtlicher Vergangenheit zu rekonstruieren; oder die Rekonstruktion steht im Dienste der Interpretation der Schriften des NT unter der Voraussetzung, daß diese der Gegenwart etwas zu sagen haben. Diesem letzteren Interesse ist in der hier gegebenen Darstellung die historische Arbeit dienstbar gemacht worden" (S. 599).
Christliche Theologie gibt es konsequenterweise erst, seit es ein neutestamentliches Kerygma gibt. D.h.: Die Verkündigung des historischen Jesus gehört nicht zur neutestamentlichen Theologie, sondern zu ihren Voraussetzungen (S. 1).
Bultmanns Art der Interpretation hat Konsequenzen besonders für die Paulus- und Johannesforschung sowie für die Darstellung des Judentums gehabt.
a) Konnte er im Jahre 1920 in Anlehnung an seine religionsgeschichtlichen Lehrer noch schreiben: "[...] die Bekehrung des Paulus [...] ist das ekstatische Erlebnis eines hellenistischen Juden, das ihn in den Bann des Kyrioskultes der hellenistischen Gemeinde zog" [Rudolf Bultmann, Ethische und mystische Religion im Urchristentum (1920), wieder abgedruckt bei Moltmann (wie Anm. 9), S. 29-47, hier S. 34], so rücken in der Folgezeit nach seiner Hinwendung zur dialektischen Theologie historische Aussagen über die Bekehrung des Paulus in den Hintergrund. Ferner hebt Bultmann verstärkt auf den theologischen Sinn der Bekehrung des Paulus ab: "[...] denn eben dieses ist der Sinn seiner Bekehrung: die Preisgabe seines bisherigen Selbstverständnisses [...] war die gehorsame Beugung unter das im Kreuz Christi kundgewordene Gericht Gottes über alles menschliche Leisten und Rühmen. So spiegelt sie sich in seiner Theologie wider" [Bultmann, Theologie, S. 189; Hervorhebung im Original] . Die Kritik an diesem Punkt vorwegnehmend, ist allerdings zu fragen, ob die "theologische" Interpretation der Bekehrung des Paulus nicht zu Lasten der historischen Rekonstruktion und ihrer Bedeutung für ein angemessenes Verständnis des Apostels geht. Denn die Fragen nach seiner Herkunft, seinem Bekehrungserlebnis (Vision?), dem Verhältnis zwischen der ihm in der Bekehrung eröffneten Einsicht und späteren Aussagen in seinen Briefen sind nicht gleichgültig für die Frage nach dem theologischen Sinn der Bekehrung. Bultmanns Sätze erwecken den Eindruck, als ob die ganze spätere Theologie des Paulus in der Bekehrung enthalten gewesen sei, was sicher differenziert werden müßte.
b) Die Grundsatzentscheidung, Geschichte im Blick auf das tua res agitur zu interpretieren, führt auch zu weitreichenden Konsequenzen in der Darstellung der Theologie des Johannesevangeliums [Vgl. Bultmann, Theologie, S. 354-445 (Lit.)] . Hier wird nach Bultmann der gnostische Schicksalsdualismus (physei sozesthai) zum Entscheidungsdualismus. Doch bleibt - einer Kritik an Bultmann abermals vorgreifend - zu berücksichtigen, daß Bultmann in seiner Johannesanalyse viele ungesicherte historische Entscheidungen (Hypothesen dritten und vierten Grades) treffen muß, ehe er die genannten theologischen Urteile fällen kann (Reden- und Zeichenquelle, gnostische Sprache, in Unordnung geratenes Evangelium, kirchliche Redaktion, - von der Notwendigkeit der Neubestimmung einer vorchristlichen Gnosis einmal ganz zu schweigen).
c) Schließlich führte der gleiche Interpretationsansatz auch zu historischen Fehlurteilen bei der Darstellung des Judentums. Bultmanns Buch "Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen" [Rudolf Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen (1949), Reinbek 1962] will, indem es vergangene Geschichte lebendig werden läßt, zum Bewußtsein bringen: tua res agitur, es geht um dich selber. Es will also nicht historische Forschung in dem Sinne sein, daß es neues religionsgeschichtliches Material bringt oder neue Kombinationen der religionsgeschichtlichen Zusammenhänge vorträgt. Solche Forschung ist in ihm vorausgesetzt. Die Aufgabe sei vielmehr die der Interpretation. Gefragt wird nach dem Existenzverständnis, das im Urchristentum als neue Möglichkeit menschlichen Existenzverständnisses zutage getreten ist, - oder vorsichtiger: ob und inwiefern das der Fall ist (S. 7f.).
Trotz Bultmanns Absicht, wertfrei darzustellen, läuft seine Beschreibung des Judentums doch auf dessen Verzerrung aus protestantischer Perspektive hinaus. Gerade seine Hermeneutik führt ihn zu historischen Fehlurteilen, etwa wenn er die jüdische Frömmigkeit so charakterisiert, als beruhe sie nur auf einem formalen Gehorsam (S. 64), wenn er den jüdischen Zeitgenossen Jesu eine Heilsunsicherheit bescheinigt (S. 66) oder wenn er meint, im Judentum sei das Verhältnis zu Gott ausschließlich ein rechtliches (S. 63). In all diesen Fällen handelt es sich um eine christliche Interpretation, die nicht als solche kenntlich gemacht und nur darauf berechnet ist, das christliche Heilsprinzip vor dem dunklen jüdischen Hintergrund besser abheben zu können.
In anderen Ausführungen zum Judentum betont Bultmann, daß die negativen Aussagen des Paulus theologischen Charakter hätten, also vom Standpunkt des Glaubens gefällt worden seien (vgl. seine Ausführungen zu Röm 7 [Vgl. Bultmann, Theologie, S. 248]) . Sie stützen sich daher nicht auf die Empirie. Diese These wird von Bultmannschülern der Gegenwart immer wieder gegen den Vorwurf ins Feld geführt, Bultmann treibe zum Teil antijudaistische Exegese. Doch bricht an diesem Punkt eine Schwierigkeit auf. Welchen Sinn sollen in der historischen Theologie Aussagen haben, die keinen Anhalt an der Geschichte besitzen, die sich nicht historisch belegen lassen, die nur vom Glauben aus gegeben werden?
Allgemein gesagt, tat sich in Bultmanns bisher gemusterten Arbeiten eine Spannung zwischen Geschichte und Theologie auf, was freilich wenig verwunderlich ist, da die Historie von Bultmann keines theologischen Blickes gewürdigt wurde, ja für ihn Text und Geschichte praktisch identisch sind, wie oben deutlich wurde (s.o.S. 14: "Geschichte kommt zu Wort nur, wo der Exeget bereit ist, den Text als Autorität reden zu lassen").
Zudem ist der von Bultmann strapazierte Begriff des Kerygmas ein inhaltlich fast entleerter Terminus. Der Begriff umschreibt "das aus aller Zeitverflechtung scheinbar ideal herausgefilterte, unaufgebbare Substrat der endzeitlichen Botschaft Jesu und der Urgemeinde, freilich aber ohne auch nur im entferntesten das auszudrücken, was einst wesentlicher Gehalt war, nämlich die apokalyptische Weltperspektive, in die Jesus und seine Botschaft ursprünglich eingebettet sind" [August Strobel, Kerygma und Apokalyptik, Göttingen 1967, S. 12; Hervorhebung im Original] .
Innerhalb der Bultmannschule brach gerade infolge der letztlich fehlenden Geschichtsbezogenheit ihrer Theologie ein ernster Konflikt aus, als Ernst Käsemann aufgrund exegetischer Beobachtungen zum urchristlichen Enthusiasmus die Apokalyptik als "Mutter" christlicher Theologie bestimmte [Ernst Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie, in: ZThK 57 (1960), S. 82-104; ders., Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, in: ZThK 59 (1962), S. 257-284] . Diese These sprengte den Ansatz, nach dem das Existenzverständnis Ausgangspunkt neutestamentlicher Theologie sei. Plötzlich wurde aufgrund des historischen Befundes das Fundament von Bultmanns Rekonstruktion zweifelhaft und ein "Bündel von Vorstellungen", wie Hans Conzelmann in beißendem Spott gegen Käsemann bemerkte, Ursprung der Theologie [Hans Conzelmann, Zur Analyse der Bekenntnisformel 1. Korinther 15,3-5, in: EvTh 25 (1965), S. 1-11, hier S. 3 Anm. 16. Vgl. Käsemanns Antwort: Konsequente Traditionsgeschichte?, in: ZThK 62 (1965), S. 137-152] . Dabei hatte Käsemann eigentlich nur alte Erkenntnisse der religionsgeschichtlichen Lehrer Bultmanns zur Geltung bringen wollen und seine Analyse zur Apokalyptik als hauptsächlich historisch bezeichnet [Man vgl. Käsemanns Erläuterung zum Wiederabdruck des Aufsatzes "Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik", in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 2, Göttingen 1962, S. 105 Anm. *. Überhaupt fällt auf, wie Käsemann auch in seiner Johannesanalyse passim von sich als "dem Historiker" spricht (Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1966, S. 9.10.12 u.ö.)] .
In der ebenfalls von Ernst Käsemann angestoßenen Debatte um den historischen Jesus [Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: ZThK 51 (1954), S. 125-153] meldete sich abermals die Geschichte zu Wort. Die Diskussion ergab: Das 'neutrale' Wissen über Jesus ist größer, als Bultmann zuzugeben bereit war. Außerdem wurde zunehmend das historisch-genetische Verhältnis von vorösterlicher und nachösterlicher Gemeinde erkannt und aus allgemein historischen Gründen zu Recht postuliert. Wieso sollte Jesus, ohne dessen Verkündigung die Bildung der christlichen Gemeinden undenkbar gewesen wäre, dann nicht auch Gegenstand der neutestamentlichen Theologie sein? Bultmanns Ausklammerung der Verkündigung Jesu aus der Theologie des Neuen Testaments wurde daher als künstlich erkannt und in der Regel verworfen.
Käsemann versteht Bultmanns radikale Antithese von historischer und sachlicher Kontinuität zwischen Jesus und der urchristlichen Verkündigung nicht. "Gar nicht begreife ich aber, daß man im Raum des Geschichtlichen sachliche Kontinuität behaupten könnte, ohne sofort [...] historische Kontinuität mitzudenken" [Ernst Käsemann, Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 2, Göttingen 1964, S. 31-68, hier S. 43] . Er fragt weiter: "wird nicht endlich [...] sichtbar, daß wirklich alles Historische bei Bultmann theologisch wesen- und bedeutungslos ist? Zeigt sich [...] nicht [...], warum auch der historische Jesus selbständige Bedeutung von den Voraussetzungen dieses Denkens her gar nicht haben kann?" (S. 61f).
Freilich führte die Einzelkritik an Bultmann unter primär historischem Bezug gerade nicht zu einer Revision seines Grundansatzes einer Theologie des Wortes. Das Geschichtliche, Wirkliche, Reale, das in der neuen Debatte um den historischen Jesus und die Apokalyptik entdeckt wurde, führte zu keiner historischen Darstellung des frühen Christentums. Vielmehr wurde ein erster Vertreter dieses Typs von Theologie, "Lukas", sogar von Käsemann als ein Repräsentant des Frühkatholizismus eingestuft und von dem Theologen der Rechtfertigung, Paulus, trotz aller Bemühung um geschichtliche Gerechtigkeit negativ abgehoben [Ernst Käsemann, Paulus und der Frühkatholizismus, in: ZThK 60 (1963), S. 75-89] .
Eine Theologie des Wortes steht auch bei der redaktionsgeschichtlichen Methode [Vgl. Georg Strecker/Udo Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese, UTB 1253, 41994, S. 108-119. Die Autoren thematisieren nicht die historische Rekonstruktion als exegetische Aufgabe] im Hintergrund. Unter Weiterentwicklung exegetischer Ansätze Bultmanns thematisierten seine Schüler die redaktionelle Arbeit der Evangelisten und gelangten zu plausiblen Ergebnissen bezüglich der theologischen Absicht jedes einzelnen von ihnen. Damit wurde das Instrumentarium exegetischer Methoden zweifellos um einen Schritt erweitert - aber mit welchen Begleit- bzw. Folgeerscheinungen! Redaktionsgeschichte blieb nämlich in den meisten Fällen Redaktionskritik (bezeichnenderweise wird Redaktionsgeschichte im Englischen mit "redactional criticism" wiedergegeben), denn die eigentlich historische Frage in bezug auf das Berichtete und den historischen Kontext des Evangelisten wurde in der Regel kaum gestellt - oft mit dem zutreffenden Hinweis auf den hypothetischen Charakter eines solchen Unternehmens. Aber ist die Ermittlung des redaktionellen Sinns nicht genauso hypothetisch?
Ich breche hier den Überblick über die Rezeption der RGS durch Bultmann und seine Schüler ab. Als herausforderndes Fazit ergibt sich, daß - historisch gesehen - seit Bultmanns Wende zur dialektischen Theologie nicht nur ein Sistieren der eigentlichen realhistorischen Forschung bei ihm festzustellen ist, sondern sogar ein Rückschritt. Die Bultmannschüler verstärkten faktisch die bei ihrem Meister wirkende Tendenz und verhielten sich äußerst spröde gegenüber "neuen" Ansätzen wie der soziologischen Fragestellung, um nur diese zu nennen [Vgl. Gerd Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, S. 3-34 mit dem Vorwort S. IIIf.] .
Gerd Lüdemann, 1996
- Gegenwärtige Perspektiven der "Religionsgeschichtlichen Schule"
(=> Auszug aus: "Die 'Religionsgeschichtliche Schule" und die Neutestamentliche Wissenschaft, STRS 1)
Einer sich neu orientierenden neutestamentlichen Wissenschaft bleibt nichts anderes übrig, als das liberale bzw. religionsgeschichtliche Erbe zu vertiefen und entschlossen das Defizit an Geschichtsbewußtsein zu beseitigen - dies, obwohl ihr eine sich ausschließlich theologisch gebärdende, den Kontakt mit der Geschichte verlierende Exegese und eine sukzessiv abnehmende Qualität der Vorbildung in klassischen Sprachen sowie der humanistischen Bildung entgegenstehen. Doch liegt in diesen Defiziten auch eine große Chance, weil so die Fremdheit der durch die Schulexegese bis zur Unkenntlichkeit entstellten antiken Geschichte neu entdeckt werden kann.
Daraus ergibt sich als erste Forderung für die Ausbildung, daß sowohl Lehrende als auch Studierende die Umwelt des Urchristentums als festen Bestandteil ihres Forschungs- und Lernprogramms begreifen. Diese Umwelt darf nicht länger nur als Hintergrund für das frühe Christentum angesehen werden, weil dadurch fälschlicherweise eine Nicht-Zugehörigkeit der Christen zu ihr suggeriert wird. Vielmehr müssen die Religionen der hellenistischen Zeit (einschließlich des Judentums) Gegenstand der neutestamentlichen Forschung werden, und die Neutestamentler(innen) sollten im idealen Fall eine ihrer akademischen Qualifikationsarbeiten (Promotion oder Habilitation) hauptsächlich über Religionen der hellenistischen Zeit bzw. über diese selbst geschrieben haben. (Es wäre dann nur billig, daß Philologen und Althistoriker Sitz und Stimme in den Prüfungskommissionen hätten.) Darüber hinaus sollten sie sich, wenn auch in bescheidenem Ausmaß, an der Erforschung der hellenistischen Literatur aktiv beteiligen. Den Studierenden sollte mindestens eine Vorlesung/Seminar über eine Religion der hellenistischen Zeit bzw. über diese selbst und eine Seminararbeit darüber zur Pflicht gemacht werden. Althistorische, altphilologische und neutestamentliche Lehrangebote wären also zu koordinieren.
Die Forderung nach Geschichtsbezogenheit der neutestamentlichen Forschung führt zweitens zu einer größeren Berücksichtigung der politischen, soziologischen und ökonomischen Fragestellungen in bezug auf das Neue Testament und seine Umwelt. Dadurch wird ihm erst der lebendige Geist der antiken Welt eingeflößt, und Geschichte erscheint dann nicht nur als schmaler Handlungsablauf bzw. als Ereignisfolge, sondern auch als geprägt durch die Gesellschaft, durch Normen und Institutionen. In diesem Zusammenhang erhält die Frage nach dem Sitz im Leben der urchristlichen Literatur ihren ursprünglichen soziologischen Ort zurück, den sie in der RGS hatte: Sie bedeutet nicht nur Sitz im gottesdienstlichen Leben, sondern umfassender auch den Sitz im kulturell-politischen Leben.
Aus der Forderung nach Geschichtsbezogenheit der neutestamentlichen Forschung folgt drittens eine entschlossene Zuwendung zum Erfahrungsaspekt urchristlichen Glaubens und - im Zusammenhang damit - die Einbeziehung religionspsychologischer Überlegungen. Sie sind die folgerichtige Fortsetzung und Vertiefung der als selbstverständlich erachteten historischen Bemühungen, setzen die historische Untersuchung im Leben des Einzelnen fort und verfolgen sie bis ins Quellgebiet des Unbewußten (Beispiele: Bekehrung des Paulus sowie Verleugnung und Vision des Petrus [Vgl. zum Beispiel Petrus/Paulus: Gerd Lüdemann, Psychologische Exegese oder: Die Bekehrung des Paulus und die Wende des Petrus in tiefenpsychologischer Perspektive, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposium zum 65. Geburtstag von Georg Strecker, BZNW 75, Berlin/New York 1995, S. 91-111; ders., Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Stuttgart 21994; Gerd Lüdemann/Alf Özen, Was mit Jesus wirklich geschah. Die Auferstehung historisch betrachtet, Stuttgart 1995].
Aus der Forderung nach Geschichtsbezogenheit neutestamentlicher Forschung folgt viertens, daß an die Stelle einer Theologie des Neuen Testaments, die hauptsächlich mit den "Ideen" [Man vgl. dagegen bereits William Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897. Mich würde interessieren, ob Wrede Karl Marx gelesen hat, demzufolge Ideengeschichte "Gespenstergeschichte" ist. Vgl. dazu Kurt Rudolph, Edward Nordens Bedeutung für die frühchristliche Religionsgeschichte, unter besonderer Berücksichtigung der "Religionsgeschichtlichen Schule", in: B. Kytzler/ders./J. Rüpke (Hrsg.), Eduard Norden, Palingenenia 49, 1994, S. 83-105, hier S. 104] der neutestamentlichen Autoren befaßt war, eine Geschichte des Urchristentums treten muß, die die früheste Epoche ganz aus sich heraus nach den Gesetzen der historischen Wissenschaft darstellt. Diese Arbeit setzt die Unmöglichkeit besonderer christlicher Erkenntnismethoden voraus und hat sich ganz an ihrem Gegenstand, dem frühen Christentum, wie es in den erhaltenen Quellen deutlich wird, zu orientieren [Vgl. zum Folgenden: Gerd Lüdemann, Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums, Stuttgart 1995, S. 11-22] .
Bezüglich der zeitlichen Abgrenzung der durch Jesus begründeten ersten Phase des Christentums ist zu bemerken: Sie liegt dort, wo der Konsolidierungsprozeß der frühchristlichen Gruppen abgeschlossen ist, Normen über richtig und falsch sowie der Kanon ausgebildet sind, mit der Entwicklung des monarchischen Episkopats auch eine gewisse Machtstellung der frühchristlichen Gemeinden gegenüber Gegnern ausgebildet ist und Sanktionen auch äußerlich durchsetzbar waren. Diese Abgrenzung läßt sich auch damit begründen, daß gegen Ende des 2. Jahrhunderts ein Versiegen der mündlichen, genetisch mit Jesus zusammenhängenden Traditionen zu konstatieren ist und sich wissenschaftliche christliche Theologie durch ständigen Rückbezug auf Jesus vergewissern muß. (Ein zu forderndes lebendiges Gedächtnis dieses Ursprungs ist freilich mehr als eine Wiederholung der Worte und Taten Jesu.) Das gilt selbst angesichts des Befundes, daß nicht geringe Teile der frühchristlichen Literatur ohne Rekurs auf den historischen Jesus auskommen, denn dieser bleibt - historisch gesehen - entscheidender Auslöser der christlichen Bewegung.
Diese erste Phase des frühen Christentums ist die Einheit, in der die Weichen dafür gestellt wurden, was als christlich gelten kann. In ihr schälte sich das Christentum als Erscheinung sui generis heraus. Insofern behält die Geschichte des Urchristentums eine herausragende Bedeutung gegenüber der nachfolgenden Kirchengeschichte. Diese erste Phase des Christentums ist rein historisch zu erforschen (fast könnte man sagen, sie ist zunächst unsere Bibel), denn das Schriftprinzip wurde durch die Auflösung des Inspirationsdogmas ein für allemal für die wissenschaftliche Theologie erledigt.
Dies gilt sowohl gegenüber der Kerygmatheologie, nach der Theologie im wesentlichen Schriftauslegung ist, als auch gegenüber manchen Spielarten der materialistischen Exegese, die naiv auf der Grundlage des Kanons theologische Urteile gewinnt. Das Kanonprinzip führt ja trotz aller Differenzierungsversuche (z.B. "Kanon im Kanon") praktisch dazu, den in ihm eingeschlossenen Schriften eine größere Dignität zu gewähren (man vergleiche die Anzahl der zu den einzelnen kanonischen Schriften verfaßten Kommentare im Vergleich zu denen über nichtkanonische Schriften) und Geschichte zu einer Geschichte der Sieger zu machen. Gustav Krüger behält hierin recht: "Die Existenz einer 'neutestamentlichen Wissenschaft' oder einer 'Wissenschaft vom Neuen Testament' als einer besonderen theologisch-geschichtlichen Disziplin ist ein Haupthindernis 1) einer fruchtbaren, zu gesicherten und allgemein anerkannten Ergebnissen führenden Erforschung des Urchristentums, also auch des Neuen Testaments selbst, und 2) eines gesunden theologisch-wissenschaftlichen Unterrichtsbetriebes" [Gustav Krüger, Das Dogma vom neuen Testament, Gießen 1896, S. 4] .
So nützlich und wichtig es auch weiterhin ist, die Wirkungsgeschichte der Exegese der kanonischen Schriften nachzuzeichnen, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß es daneben und davor wichtige Gruppen gegeben hat, die aus historisch zu erklärenden Gründen von der erfolgreichen Partei verdrängt wurden. Sie wurden an einer dauernden geschichtlichen Entfaltung oft gewaltsam gehindert, haben aber sicher theologisch eine große Bedeutung [Vgl. die Illustrationen in Lüdemann, Ketzer] .
Die Forderung nach einer zunächst rein historisch zu erstellenden Realgeschichte des Urchristentums ergibt sich schließlich aus zwei voneinander verschiedenen Gründen: a) aus der Existenz theologischer Fakultäten an der Universität, d.h. aus dem wissenschaftlichen Charakter der Theologie, b) aus Interesse an der Religion selbst. Die Punkte sind näher zu begründen.
Zu a: Soll theologische Wissenschaft sich nicht selbst aus der Universität verbannen und den Status eines Seminars zur Pastorenausbildung anstreben wollen, so ist die oben erhobene Forderung nur gerechtfertigt. Denn - so Gustav Krüger - wir "leiden mehr als wir wissen oder zugeben wollen, unter jener Schleiermacherschen
Begriffsbestimmung, wonach der Wert jeder theologischen, also der theologisch-historischen Arbeit sich im letzten Grunde nach dem bestimmt, was sie der Kirche leistet. Ich sollte denken, die Beurteilung wissenschaftlicher Arbeit ertrage nur einen Maßstab, den, wie weit sie die Erkenntnis der Wirklichkeit fördert." [Krüger, Dogma, S. 39 Anm.; Hervorhebungen im Original] . Oskar Pfister konnte das überspitzt so ausdrücken: "eine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist sowenig christlich, wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch ist. Nicht die kirchliche Brauchbarkeit, sondern lediglich die Wahrheit an sich muß das Ziel bilden [...] Wissenschaft mit von der Kirche bestellten Resultaten ist Scholastik." [Oskar Pfister, Die Aufgabe der Wissenschaft vom christlichen Glauben in der Gegenwart, Göttingen 1923, S. 13] .
Zu b: Es kann nur im Interesse der christlichen Religion sein, wenn ihr durch die Kritik der Schleier genommen wird und sie in die Sphäre des antiken Lebens tritt, d.h. revitalisiert wird. Eine historische Theologie ist dabei weder Totengräberin des (Ur-)Christentums noch Trauerarbeit nach dessen Tod, sondern wird, richtig betrieben, dem Leben dienen. Besteht der Wahrheitsanspruch der christlichen Religion zu Recht, daß sich nämlich an der Person Jesu das Heil entscheidet, so ist radikale historische Forschung vonnöten, um die Geschichte nachzuzeichnen, in der Jesus als der Christus bekannt wurde. In der möglichst objektiven, unsere Kenntnisse ständig neu erweiternden Forschung dieser Geschichte hat die neutestamentliche Wissenschaft ihre bleibende Aufgabe. Ob sie damit Glauben erzeugt, steht freilich nicht in ihrer Macht, denn gerade historische Theologie führt auch zur Erkenntnis, daß Glauben durch historisch nicht reflektierte Interpretation sowie Kommunikation bzw. Interaktion immer wieder entsteht und lebt und sich dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht.
Gerd Lüdemann, 1996
- Die Keimzelle der "Religionsgeschichtlichen Schule" in Göttingen um Albert Eichhorn (1884-1888)