Jenseits des Guten, diesseits des Bösen? „Fiesheit(en)“ zwischen Alltag, Popkultur und Politik
Göttingen, 26./27.4. 2019
Wenn es alltagssprachlich heißt, etwas – eine Verhaltensweise, ein Witz, Spruch, Streich/prank, eine Situation – sei fies, dann verweisen solche Zuordnungen auf ein breites Spektrum von Phänomenen: von der scherzhaften, vielleicht sogar liebevollen Frotzelei, die als fies und damit zugleich amüsant gilt, sei es in der Familie oder öffentlich unter Prominenten oder PolitikerInnen, über ernsthaftere Akte der bewussten Herabsetzung und Schädigung anderer Personen, bevorzugt Schwächerer, bis hin zu kommerziellen und politischen Strategien oder dadurch bedingten Situationen und deren Skandalisierung (fiese Tricks). Stereotype Figuren der englischsprachigen Popkultur wie die Mean Girls des gleichnamigen Films sind im Deutschen fies oder gemein. Zuordnungen dieses Sprachgebrauchs zu spezielleren Registern, z.B. als kindersprachlich oder dialektal, scheinen inzwischen weitgehend abgeschliffen. Die Kennzeichnung als fies transportiert eine moralische Wertung, das Fiese tritt uns damit als eine unspektakuläre, triviale, vielleicht auch harmlosere Variante des Bösen entgegen. Die Reaktionen auf beobachtete bzw. inszenierte fiese Handlungen, die sich gegen andere richten, changieren meist zwischen rechtschaffener Empörung, Amüsement und komplizenhaft-faszinierter Identifikation. Solche Ambivalenzen sind gewissermaßen Bestandteil der Sache selbst.
In den letzten Jahren scheinen zwei Formen des so verstandenen Fiesen besonders an Bedeutung gewonnen zu haben, die dem Themenbereich eine neue Dringlichkeit geben: zum einen der Internet-Humor mit seinem amoralischen oder antimoralischen Prinzip for the lulz, zum anderen die Abgrenzung von vermeintlich moralistischen ‚Gutmenschen‘ und der politischen Korrektheit im Rechtspopulismus, die oft mit einer Affirmation von Machtausübung und Privilegiengenuss einhergeht, die andere dann als fies etikettieren. Nicht umsonst apostrophieren KritikerInnen der Trump-Präsidentschaft in den USA letztere gelegentlich als age of meanness – wie schon die britischen Konservativen der Thatcher-Zeit als the mean party geschmäht wurden, weil sie Egoismus und die Aufkündigung von sozialer Solidarität propagierten. Auf der politischen Linken scheinen clevere Gehässigkeiten dagegen eher als Bestandteil von politischer Satire, Comedy oder Twitter-Gewittern als legitim zu gelten – vor allem, dann, wenn es eher um ein punching up als um ein punching down geht. TV-Reality-Formate und Shows wie (Promi-) Big Brother oderDschungelcamp, in denen Praxen der Zurschaustellung, der Erniedrigung und Herabwürdigung zentrale Prinzipien bilden, sind nur ein Beispiel für das kalkuliert Fiese in der Unterhaltungskultur.
So unscharf das Fiese also auch konturiert ist, so verweist es doch auf einen Komplex von Einstellungen, Praktiken, medialen Formaten und Wahrnehmungsweisen, in dem sich Stimmungen, Gefühlsstrukturen (Raymond Williams) oder affective regimes (Jeremy Gilbert) zu verdichten scheinen – durch verschiedene gesellschaftliche Sphären oder Bereiche hindurch. Ein besseres Verständnis dieses Komplexes und seiner gesellschaftlich-politischen
Zusammenhänge sollte sich gerade für eine Kulturwissenschaft lohnen, die den Wirkungsweisen von Macht und Herrschaft im Alltäglichen und Gewöhnlichen nachgeht.
Dabei lassen sich verschiedene Fäden aus bestehenden Forschungsrichtungen aufnehmen, zum Beispiel von linguistischen Performanzstudien und Gesprächsanalysen (über Humor, teasing etc.), aus der Affekt- und Emotionsforschung (z.B. ugly feelings), aus neueren Internet-Studien, der Erzählforschung oder anderen ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der dunklen – oder gar bösen – Seite von (Alltags-)Kultur.
Das Interesse dieser Tagung gilt dem (populär-)kulturellen Repertoire dessen, was alltagssprachlich als fies, als Fiesheit und als Fiessein etikettiert wird und seinen Bedeutungen, Politiken und Effekten. Im Fokus stehen insbesondere die Normbrüche, der Spaß am Fiesen, die moralischen, kulturellen und sozialen Ambivalenzen und die möglichen Resonanzen zwischen verschiedenen Bereichen – Alltag, Popkultur, Politik.
Wir laden also ein zu Vortragsvorschlägen, die – gegenwartsbezogen oder historisch – Fragen bzw. Bereiche wie die folgenden behandeln:
Protest-Inszenierungen oder auch der an Mächtigeren auf kleiner Ebene, in den hidden transcripts des Alltags?
Wir bitten um die Einreichung eines Abstracts von ca. 300 Wörtern an mege@uni- goettingen.de und julia.fleischhack@phil.uni-goettingen.de bis zum 20.12.2018, die Benachrichtigungen folgen bis Anfang Januar. Vorträge sollten für eine Länge von ca. 25 Minuten konzipiert werden.
Die Tagung wird ausgerichtet von Dr. Julia Fleischhack und Prof. Dr. Moritz Ege in Kooperation mit den Studierenden des laufenden Lehrforschungsprojekts am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen und findet in den Räumen der Alten Mensa statt.