1. Einleitung
„Der Populismus ist eine Krankheit, die von einem neuen (liberalen) Verständnis der Demokratie hervorgebracht wird“ (Manow 2024: 26). Damit provoziert Manow mit der These, dass die liberale Demokratie ihre Feinde selbst erschaffen hat – eine Perspektive, die in der politikwissenschaftlichen Forschung bislang wenig Beachtung fand. Der Autor des Buchs „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“, Philip Manow, ist Politikwissenschaftler und hat seine Professur für Internationale Politische Ökonomie. Seine vorherigen wissenschaftlichen Arbeiten befassten sich mit Demokratie, Populismus und der politischen Ökonomie. Sein zentrales Buch „Unter Beobachtung“ untersucht, wann und wie der Begriff der liberalen Demokratie relevant wurde. Manow arbeitet mit den Konzepten der Historisierung und Konstitutionalisierung, um die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie besser zu verstehen. Die zentrale These Manows lautet nämlich, dass die aktuelle Krise der liberalen Demokratie eine direkte Folge der politischen Umbrüche von 1989/90 sei und die Demokratie mit dem Ende des Kalten Krieges eine zunehmende Konstitutionalisierung erfuhr. Gleichzeitig kritisiert er, dass gegenwärtige Debatten über die Gefährdung der liberalen Demokratie keine Vorstellung erkennen lassen, wie umfassend der zuvor erwähnte Wandel gewesen ist, von dem die Demokratie nun erst vor nicht allzu langer Zeit erfasst wurde (vgl. Manow 2024: 20).

In dieser Rezension wird das Buch einer kritischen Analyse hinsichtlich seiner Argumentationslogik, theoretischen Fundierung und analytischen Reichweite unterzogen.

2. Zentrale Erkenntnisse
In seinem Werk „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“ argumentiert Philip Manow, dass die Krisen der liberalen Demokratie nicht als spontane Entwicklungen, sondern als direkte Folge der politischen sowie institutionellen Umbrüche ab 1989/90 verstanden werden können. Ausgangspunkt seines Werks ist die Frage, ob es vor 1990 Gegner oder Anhänger der liberalen Demokratie gegeben habe (vgl. Manow 2024: 11). Diese Frage verneint er mit dem Hinweis, dass die liberale Demokratie vor 1989/90 weder als klar definierte Idee noch als institutionelles Setting existierte (vgl. ebd.). Daraus leitet er die Notwendigkeit ab, zwei analytische Zugänge – Historisierung und Konstitutionalisierung – ins Zentrum seiner Untersuchungen zu stellen. Das Werk ist in fünf Kapitel unterteilt: Im ersten Kapitel entwickelt Manow eine Historisierung des Begriffs der liberalen Demokratie, um ihre historische Bedingtheit bzw. Gewordenheit zu verdeutlichen (vgl. Manow 2024: 15). Ziel ist es, die gegenwärtige Krisenanfälligkeit nicht als eine Abweichung von einem Ideal, sondern als Teil ihrer Geschichte zu verstehen: „Es geht darum, das vorgeblich Selbstverständliche als das nur für eine gewisse Zeit als selbstverständlich Erscheinende auszuweisen, darum, die Naivität der unmittelbaren, der unvermittelten Anschauung hinter sich zu lassen – die unsere gegenwärtige Debatte über die Krise der liberalen Demokratie prägt“ (Manow 2024: 13)

Im zweiten Kapitel analysiert Manow die ideengeschichtliche Entwicklung des Demokratiebegriffs und verdeutlicht, wie verschiedene politische Strömungen – insbesondere im Kontext von Populismus und Globalisierung - die Demokratie ihrerseits unterschiedlich interpretieren.

Das dritte Kapitel ist den institutionellen Ursachen und Folgen gewidmet sowie der Institutionengeschichte der Demokratie, um die Konfliktdynamik und Begriffsgeschichte besser nachzuvollziehen (vgl. Manow 2024: 23f.). Zudem wird das Konzept der Konstitutionalisierung im Kontext der liberalen Demokratie erläutert.

Besonders deutlich wird dies etwa im Kapitel „Kompetenzen und Kompromisse“ mit dem passenden Untertitel: „Die Politisierung der Justiz als Folge einer Justizialisierung der Politik“ (Manow 2024: 112). Im vierten Kapitel des Buches geht Manow der Frage nach, wie die Demokratie selbst zunehmend zum Gegenstand systematischer Beobachtungen wird – sei es durch die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft oder internationale Organisationen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Versuch, die Demokratie epistemisch zu vermessen und auf die damit verbundenen Auswirkungen auf unser Demokratieverständnis. (vgl. Manow 2024: 167f.). Im abschließenden Kapitel zieht Manow praktische sowie normative Konsequenzen aus seiner Rekonstruktion der liberalen Demokratie und zeichnet die Widersprüche unserer Zeit nach. Grundlegend ist seine Feststellung, dass das gegenwärtige Demokratieverständnis historisch gewachsen und abhängig von wandelbaren Konzepten sei. Denn die aktuellen Konzepte präsentieren sich als zeitlos, verschleiern jedoch ihre historische Bedingtheit (vgl. ebd.: 175f).

3. Kritische Analyse
Zur kritischen Auseinandersetzung mit Manows Werk gilt es zunächst diese mit den Überlegungen anderer Autoren in Beziehung zu setzen, um mit der Tragweite seiner Analyse anschließen zu können.

In der politikwissenschaftlichen Diskussion zur gegenwärtigen Krise der Demokratie sticht insbesondere das Werk von Armin Schäfer und Michael Zürn „Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus“ (2021) hervor. Darin analysieren die beiden Autoren mögliche Ursachen des Aufstiegs autoritärer populistischer Bewegungen und interpretieren deren Erfolg nicht primär als Ausdruck kultureller oder ökonomischer, sondern politischer Faktoren. Demnach sei der autoritäre Populismus als Reaktion auf die zunehmende Entkoppelung zwischen der politischen Klasse und den gesellschaftlichen Mehrheiten zu verstehen (vgl. Schäfer/Zürn 2021: 91f.). Zentral für ihre Krisendiagnose ist also eine Unzufriedenheit der großen Mehrheit mit der politischen Klasse, die nicht auf bestimmte Politiken zurückzuführen sei, sondern auf ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem politischen System und Entscheidungsträgern (vgl. Schäfer/Zürn 2021: 91).

Das dadurch entstehende Gefühl einer mangelnden Repräsentation führt den beiden Autoren zu Folge zu einer tiefsitzenden Entfremdung der Demokratie (vgl. Schäfer/Zürn 2021: 91). Schäfer und Zürn identifizieren dabei zwei zentrale Entwicklungen als Ursachen für die wachsende Unzufriedenheit mit der Demokratie: Erstens die selektive Responsivität von gesetzgebenden Parlamenten, die den Präferenzen ökonomisch privilegierterer Gruppen höhere Aufmerksamkeit widmen. Zweitens die zunehmende Bedeutung von nicht-majoritären Institutionen (NMIs), wie etwa Zentralbanken, Verfassungsgerichte oder internationale Organisationen, die in wachsendem Maße an politischen Entscheidungen beteiligt sind, ohne dass sie dabei direkt demokratisch legitimiert seien.

Beide Entwicklungen führen nach der Auffassung beider Autoren zu einer erhöhten Unzufriedenheit mit der Funktionsweise demokratischer Systeme (vgl. ebd.: 92f.). Als Zeichen für die Dysfunktionalität steht paradigmatisch der rasante Aufstieg autoritärer populistischer Bewegungen in modernen Demokratien (vgl. ebd.: 93).

Ein Vergleich zwischen Philip Manows „Unter Beobachtung“ (2024) und dem Werk „Die demokratische Regression“ (2021) von Armin Schäfer und Michael Zürn verdeutlicht sowohl die inhaltlichen Überschneidungen als auch die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Verständnis der gegenwärtigen Krise liberaler Demokratien.

Eine zentrale Gemeinsamkeit der vergleichenden Betrachtung der Werke von Philip Manow sowie Armin Schäfer und Michael Zürn bildet die Rolle nicht-majoritärer Institutionen, insbesondere der Verfassungsgerichte. Beide Analysen verorten den Aufstieg des Populismus in einem strukturellen Wandel demokratischer Entscheidungsprozesse: Eine Verlagerung politischer Macht von legitimierten Mehrheitsinstanzen hin zu institutionellen Akteuren ohne direkte demokratische Rückbindung.

Während Manow den Aufstieg des Populismus primär als Folge der politischen und institutionellen Umbrüche nach 1989/90 interpretiert, betrachten Schäfer und Zürn die Ursachen in zwei zentralen Entwicklungen: der selektiven Responsivität von Parlamenten und der wachsenden Bedeutung nicht-majoritärer Institutionen (vgl. Schäfer/Zürn 2021: 92f.). In beiden Werken steht eine strukturelle Verschiebung politischer Entscheidungskompetenzen im Zentrum – weg von demokratisch legitimierten Mehrheitsprozessen hin zu nicht-majoritären Institutionen. Eine weitere Parallele zwischen den beiden Werken zeigt sich zudem in der kritischen Betrachtung von Verfassungsgerichten. Manow argumentiert, dass die Justizialisierung politischer Konflikte zwangsläufig zur Politisierung der Justiz führe (vgl. Manow 2024: 95).

Auch Schäfer und Zürn verstehen Verfassungsgerichte als Teil einer institutionellen Dynamik, in der parlamentarische Entscheidungskompetenzen geschwächt werden: „Die zweifache institutionelle Dynamik von mangelnder Responsivität der Parlamente und ihrer Entmachtung hat zur Entfremdung von der Demokratie geführt und den Aufstieg der autoritär-populistischen Parteien ermöglicht (Schäfer/Zürn 2021: 103). Der zunehmende Einfluss von nicht-majoritären Institutionen wie Verfassungsgerichte führe laut beiden Werken zu einem Verlust demokratischer Anschlussfähigkeit und Entkoppelung demokratischer Legitimationsprozesse: „Wenn aber eine Institution, die gegenüber der Bevölkerung nicht direkt rechenschaftspflichtig ist, weitreichende Entscheidungen trifft, kann leicht der Eindruck entstehen, dass die Entscheidungsfindung sehr weit weg von großen Teilen der Bevölkerung entfernt erfolgt und mithin auch deren Interessen nicht gehört werden“ (Schäfer/Zürn 2021: 107).

Trotz dieser inhaltlichen Überschneidung unterscheiden sich die Begründungszusammenhänge deutlich. Manow verortet die gestiegene Bedeutung nicht-majoritärer Institutionen historisch im Konstitutionalisierungsschub der 1980er und 1990er Jahre. Insbesondere in Transformationsgesellschaften seien Verfassungsgerichte installiert worden, um politische Übergänge zu stabilisieren, Unsicherheiten zu reduzieren und künftige Interessen im Rechtsrahmen abzusichern: „Der sprunghafte Bedeutungszuwachs von Verfassungsgerichten mit weitreichenden Normenkontrollkompetenzen speist sich aus dem Interesse an Stabilisierung und Unsicherheitsminimierung in den radikalen politischen und ökonomischen Transformationen dieser Zeit“ (Manow 2024: 105). Schäfer und Zürn hingegen erklären den Bedeutungszuwachs von nichtmajoritären Institutionen (NMIs) eher politisch-funktional statt historisch: Verfassungsgerichte seien gezielt von parlamentarischen Mehrheiten ernannt worden, um politisch „richtige“ Entscheidungen durchzusetzen, die in Mehrheitsinstitutionen nicht durchsetzbar gewesen wären.

Dabei betrachten NMIs ihre Entscheidungen selbst als sachlich richtig und als notwendig legitim, jedoch attestieren Schäfer und Zürn ihnen, dass sie nicht politisch neutral seien und eine kosmopolitische Politik institutionell einrasten (vgl. Schäfer/Zürn 2021: 115). Damit lässt sich im direkten Vergleich feststellen, dass beide Werke die gleiche institutionelle Entwicklung beschreiben, jedoch mit unterschiedlicher analytischer Stoßrichtung: Während Manow stärker die ideengeschichtliche und institutionelle Logik der Konstitutionalisierung beleuchtet, fokussieren Schäfer und Zürn die strukturellen Konsequenzen von Machtverschiebung zugunsten von nicht-majoritären Institutionen. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Auffassung, dass die gestiegene Entscheidungsmacht nicht-majoritärer Institutionen einen zentralen Beitrag zur aktuellen Legitimationskrise liberaler Demokratien leistet.

3.2 Demokratie unter juristischer Kontrolle
Das Konzept der Konstitutionalisierung soll maßgeblich zur aktuellen Krisendiagnose liberaler Demokratien beitragen. Manow versteht darunter eine allgemeine Entwicklung, der Vollzug einer „[...]Verfassungsverrechtlichung der demokratischen Transformation als >dritte Welle der Konstitutionalisierung<[...]“ (Manow 2024: 103). Diese konstitutionelle Entwicklung verläuft international auf ähnlicher Art und Weise: In post-autoritären Kontexten werden Verfassungen etabliert und starke autonome Gerichte installiert. Derartige institutionelle Kompromisse sollen in Phasen des Übergangs den neu konstituierenden Regimen die Möglichkeit gewähren, Entscheidungen auf Dauer zu stellen und zugleich den vorherigen herrschenden Gruppen institutionelle Garantien verschaffen, dass neue Regime keine Vergeltung oder Gewalt an ihnen ausüben würden (vgl. ebd.).

Nach Manow verfolgen Transformationsgesellschaften in politischen Übergangsphasen mit der Konstitutionalisierung das Ziel, durch solche Bindungen sich zu verpflichten und institutionell abzusichern. Durch die Bindung an eine Verfassung und die Etablierung von Institutionen mit weitreichenden Kontrollrechten entstehe eine Art Versicherungsfunktion gegenüber einer Unsicherheit in Zeiten von politischer Neukonstituierung (vgl. ebd.: 104). Insgesamt führt Manow die Entwicklung der Konstitutionalisierung auf das Interesse an Stabilität und Unsicherheitsminimierung in Zeiten radikaler Transformationen zurück und deutet diese strategische Reaktion auf Unsicherheit wie folgt: „Konstitutionalisierung ist also geradezu die dominante Form, in der sich die Demokratisierung der neunziger Jahre vollzieht“ (Manow 2024: 105). Bevor die Folgen der Konstitutionalisierung für die liberale Demokratie laut Manow erläutert werden, lohnt sich ein Blick auf andere relevante Autoren wie Kielmansegg (2016, 2024), der sich mit demselben Konzept auseinandergesetzt hat – dabei jedoch andere Aspekte in den Fokus rückt.

In seinem Werk „Repräsentation und Partizipation. Überlegungen zur Zukunft der repräsentativen Demokratie“ (2016) setzt sich Peter Graf Kielmansegg intensiv mit den konstitutionellen Grundlagen der Demokratie auseinander. Auch wenn der Begriff Konstitutionalisierung nicht explizit erwähnt wird, ist das damit verbundene Konzept ein zentraler Bestandteil seiner Argumentation. Kielmansegg adressiert dabei Prozesse der Verrechtlichung, Institutionalisierung und der normativen Begrenzung politischer Macht, die sich in der politikwissenschaftlichen Diskussion mit dem Begriff der Konstitutionalisierung verbinden lassen. Am Beispiel der Repräsentation entfaltet Kielmansegg seine demokratietheoretische Perspektive auf die konstitutionelle Herrschaftsbegrenzung wie folgt: „Repräsentation, heißt das, macht auch in der Demokratie die Institutionalisierung des Prinzips möglich, dass alle öffentliche Gewalt nur als rechtlich eingehegte, zeitlich befristete, gemeinwohlgebundende und rechenschaftspflichtige Macht ausgeübt werden soll“ (Kielmansegg 2016: 10f.).

Damit verweist er auf ein Demokratieverständnis, dass sich durch rechtsstaatliche Begrenzung, zeitlich gebundene Amtsausübung, gemeinwohlorientierte Zielsetzung und verpflichtende Rechenschaftspflicht konstituiert. Die Repräsentanten der Demokratie treten als Träger einer spezifischen Amtsmacht auf – legitimiert und autorisiert durch Wahlen: „Für dieses Amt, heißt das, ist die Spannung zwischen dem Gemeinwohlsauftrag und der Pflicht, Partikulares zu repräsentieren, konstitutiv“ (Kielmansegg 2016: 11).

Diese Ambivalenz zwischen universellem Anspruch und partikularem Interesse wird nicht als Widerspruch, sondern als zentrales Element der repräsentativen Demokratie verstanden – und verweist erneut auf die Notwendigkeit einer konstitutionellen Idee, die beides ermöglicht und begrenzt (vgl. Kielmansegg 2016: 11).

In seinem Aufsatz „Die letzte Instanz des Wortes“ (2024) richtet Kielmansegg den analytischen Fokus verstärkt auf die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit und betont damit eine deutlich kritischere Perspektive im Vergleich zu früheren Arbeiten. Im Zentrum steht dabei sein Verständnis von Konstitutionalisierung im Spannungsverhältnis zwischen Demokratie- und Verfassungsprinzip. Danach formuliert er eine kritische Position gegenüber einer weitreichenden Konstitutionalisierung des Politischen. Vor diesem Hintergrund entwickelt er die Frage, ob sich die Ausweitung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen noch mit der Gewaltenteilungslogik des demokratischen Verfassungsstaates in Einklang bringen, wie folgt: „Es ist fraglich, ob diese Deutung der Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit die Balance zwischen der ‚Verfassungsgewalt‘ und den anderen Gewalten zu wahren vermag. Als aktiver Mitgestalter des Gemeinwohls wird ein Gericht, dessen Entscheidungen verfassungsrechtlichen Rang haben, sehr schnell zur Vormacht im politischen Prozess, zu einer Vormacht, die ihren kompensatorischen Auftrag weitgehend frei ausdeuten kann“ (Kielmansegg 2024: 30).

Die an dieser Stelle ausgesprochene Kritik richtet sich gegen Tendenzen, bei denen das Bundesverfassungsgericht – über seine rechtssprechende Funktion hinaus –zur politischen Leitinstanz werden könnte, wenn dem Gericht zu viele kompensatorische Aufgaben zugesprochen werden. Wenn ein Verfassungsgericht nicht nur Recht schützt, sondern aktiv als Korrektiv gesellschaftlicher Fehlentwicklungen wirkt – durch die Ausweitung rechtlicher Kompetenzen – führt das zu einer Verschiebung der institutionellen Machtbalance zugunsten eines nicht durch Wahlen legitimierten Akteurs. Dieses Gefahrenpotenzial einer funktionalen Überladung des Verfassungsgerichts spiegelt sich in dem Phänomen der Justizialisierung der Politik wider, wie etwa Manow das in seinem Werk beschreibt.

Kielmansegg erkennt zwar die Rolle des Verfassungsgerichts als Hüter rechtsstaatlicher Machtbegrenzung an, betont jedoch zugleich die Notwendigkeit struktureller Selbstbegrenzung und beschreibt das Gefahrenpotenzial juristischer Vormachtstellung wie folgt: „Zwar entschärft sich die Gefahr einer Suprematie des Verfassungsgerichtes, wenn ihm nicht ein allgemeiner Auftrag der Mitgestaltung des Gemeinwohls, sondern nur der, die Grenzen des Handlungsspielraumes der Politik zu bewachen, zugesprochen wird. Aber sie verschwindet nicht“ (Kielmansegg 2024: 31). Kielmansegg betont die Gefahr einer Überdehnung des Verfassungsgerichts, insbesondere wenn sie über ihren Kompetenzbereich hinaus zu politisch handelnden Akteuren werden, die nicht demokratisch legitimiert sind, aber dennoch gestaltend in den politischen Prozess eingreifen.

Beide Autoren diagnostizieren, dass Demokratie ohne einen rechtlichen Rahmen – verstanden als Konstitutionalisierung – nicht funktionsfähig ist. Sie verstehen Konstitutionalisierung als eine Form der Selbstbindung bzw. Selbstbeschränkung, die der Kontrolle und Begrenzung von Herrschaft dient. Es lassen sich jedoch normative Bewertungen und theoretische Schwerpunkte unterscheiden. Philip Manow analysiert Konstitutionalisierung aus einer historisch-empirischen Perspektive, vor dem Hintergrund der politischen Übergänge in Transformationsgesellschaften. Dabei versteht er sie als strategische Reaktion auf Unsicherheit, die in instabilen nationalen Kontexten Stabilität schaffen und ehemaligen Regimen Garantien anbieten soll.

Sein Blick auf den Konstitutionalisierungsschub bleibt dabei ambivalent: Während er dessen stabilisierende Wirkung anerkennt, warnt er zugleich vor einer Überdehnung des Rechts im politischen Raum und den damit verbundenen Entfremdungsmechanismen in liberalen Demokratien.

Peter Graf Kielmansegg begreift Konstitutionalisierung eher im theoretisch-normativen Sinne. Ausgehend von einer institutionellen Perspektive betrachtet er Konstitutionalisierung als konstitutives Element der repräsentativen Demokratie. Er hebt hervor, dass politische Macht nur dann legitim ausgeübt werden könne, wenn sie mit einer rechtlichen Einhegung, zeitlichen Befristung und Gemeinwohlorientierung einhergehe. Dabei spielen die Aspekte der Verrechtlichung, Institutionalisierung und Machtbegrenzung zentrale Rollen. In seinem späteren Werk (2024) warnt er – ebenso wie Manow – vor einer Überdehnung richterlicher Kompetenzen, insbesondere dann, wenn sich Verfassungsgerichte zu politisch gestaltenden Instanzen entwickeln, die nicht direkt demokratisch legitimiert sind.

Ein wesentliches Spannungsfeld liegt in der Begriffsunterscheidung: Während Manow im Kontext liberaler Demokratien analysiert, bezieht sich Kielmansegg auf das Modell der repräsentativen Demokratie. Der jeweilige Demokratiebegriff beeinflusst somit die Deutung und Folgewirkungen der Konstitutionalisierung. Beide Autoren betonen jedoch, dass Konstitutionalisierung weit über den rechtlichen Vorgang hinausgeht – sie prägt den institutionellen und normativen Charakter demokratischer Systeme. Auch wenn Manow und Kielmansegg nicht direkt Bezug aufeinander nehmen und teilweise unterschiedliche Demokratiemodelle anvisieren (liberale versus repräsentative), lassen sich ihre produktiven Analysen erkenntnisreich nebeneinanderstellen. Manow beleuchtet die Konstitutionalisierung im Kontext von Wandel politischer Systeme und Kielmansegg arbeitet die Bedeutung von Konstitutionalisierung als demokratietheoretische Grundlage heraus. Beide Autoren äußern jedoch deutliche Skepsis an einer zu weitreichenden Justizialisierung des Politischen.

3.3 Reaktionen aus der Wissenschaft
Nach der Veröffentlichung von „Unter Beobachtung“ sind mehrere Rezensionen erschienen, die sowohl Lob als auch Kritik an Manows Argumentationslogik ausüben, darunter eine von Stefan Meyer aus dem Jahr 2024 und von Hubertus Buchstein und Tobias Müller, auch aus 2024. Meyer zufolge lasse sich das Buch als „[...]eine provokante, aber wohlmeinende Intervention verstehen[...]“ (Meyer 2024: 7). Es werden zentrale Fragen aufgeworfen, wie „Wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht?“ (Manow 2024: 66), die als relevante Provokationen gegen die Demokratietheorien verstanden werden können (vgl. Meyer 2024: 8).

Ein weiterer zentraler Aspekt sei die Erkenntnis Manows, Populismus werde moralisiert, oder manche erliegen einem Irrglauben, Politik nur zu beobachten und dabei nicht wahrzunehmen, dass die von uns geschaffenen Kategorien der Politik zwangsläufig politisch seien, gerade weil sie in Wechselwirkung zu den Gegenständen liegen (vgl. Meyer 2024: 5). Diese Problematik bezeichnet Manow als „Paternalismus des >liberalen< Projekts“ (Manow 2024: 168). Meyer hebt die Weitsichtigkeit Manows hervor, mögliche leere Stellen im politischen Diskurs aufzudecken. Besonders die Kritik an Demokratie-Indizes und an den westeuropäischen Blick auf Ostmitteleuropa sind beispielshaft an dieser Stelle (vgl. Meyer 2024: 8). Dabei attestiere Manow diesen Forschern, nicht das zu messen, wovon sie ausgehen, sondern fragwürdige Hypothesen zu treffen und sieht darin einen konstitutiven Bestandteil jener Krise, die sie empirisch nachweisen wollen (vgl. Meyer 2024: 5). Als Kritik greift Meyer insbesondere den Punkt auf, dass in Manows Werk durchgängig eine unklare Begriffsbestimmung der liberalen Demokratie bestehe (vgl. Meyer 2024: 7f.).

Zudem sei das Buch sprachlich an einigen Stellen nicht ausreichend klar formuliert. Meyer kritisiert auch, dass Manow die bestehenden Demokratiedefinitionen und Messungen problematisiert, aber nicht beschreibt, wie eine adäquate Messung von der Demokratie konzeptualisiert sein sollte (vgl. ebd.: 6).

Manow versuche indes nicht, mögliche weiterentwickelte Begrifflichkeiten wie liberalisierte Demokratie oder demokratischer Verfassungsstaat (unter Verweis auf Kielmansegg) zu etablieren, um dem hegemonialen Charakter des Begriffs „liberale Demokratie“ etwas entgegenzuwirken (vgl. ebd.) Außerdem adressiert Meyer, dass Manow die ökonomische Sicht in seinem Werk unterbeleuchte und kaum in seine Analyse berücksichtige (vgl. ebd. 7). Die zweite Rezension von Hubertus Buchstein und Tobias Müller lobt die institutionelle Weitsicht Manows, der sich gegen eine Institutionenvergessenheit argumentativ verteidigt (vgl. Buchstein/Müller 2024: 1). Besonders beachtlich halten die beiden Autoren Manows Einladung, die aktuelle Demokratiekrise zu historisieren, insbesondere die These, dass die liberale Demokratie erst ab 1990 als institutionelle Erscheinung greifbar wurde (vgl. ebd.: 3). Fruchtbar für die Populismusforschung ist Manows Interpretation des Populismus nicht als Gegner, sondern Produkt der liberalen Demokratie (vgl. Manow 2024: 26). Damit leistet Manow einen analytischen Beitrag zur Populismusdebatte, da er eine Rückbesinnung auf Institutionen, Verfahren und Interessen verdeutlicht (vgl. Buchstein/Müller 2024: 8).

4. Fazit
Trotz der analytischen Schärfe, den Begriff der liberalen Demokratie historisch und konzeptionell zu rekonstruieren, weist Manows Werk „Unter Beobachtung“ aus meiner Sicht gewisse Schwächen auf, die die theoretische Reichweite begrenzen. Der erste kritische Punkt betrifft die vernachlässigte ökonomische Dimension mit Blick auf die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie. Angesichts seiner Verortung in der Politischen Ökonomie, erscheint es auffällig, wie wenig bedeutend ökonomische Faktoren in seiner Krisendiagnose behandelt werden. Gerade für die Erklärung des Erstarkens populistischer Bewegungen wäre eine Berücksichtigung sozioökonomischer Ursachen von zentraler Bedeutung. Zudem bleibt Manows theoretische Fundierung des Demokratiebegriffs selbst zweifelhaft. Manow entwickelt keine explizite analytische Unterscheidung zwischen der liberalen und repräsentativen Demokratie. Während die liberale Demokratie ausreichend historisiert wird, fehlt eine institutionelle Festlegung der Wesensmerkmale. Es fehlt zudem eine konkurrierende Gegenüberstellung mit anderen Demokratietheorien, wie der repräsentativen, wofür eine genauere Abgrenzung notwendig gewesen wäre. Schließlich beendet Manow sein Buch mit dem Kapitel „Konsequenzen“ argumentativ eher zurückhaltend. Wie Meyer (2024: 6) treffend äußert, unterlässt es Manow, konkrete Schlussfolgerungen für eine mögliche Vitalisierung demokratischer Praxis zu ziehen. Er spricht sich weder für ein konkretes Demokratieverständnis aus, noch skizziert er eine normative Orientierung, im Sinne einer Repolitisierung demokratischer Entscheidungsprozesse, die der gegenwärtigen Krise der liberalen Demokratie etwas entgegensetzen könnte. Seine Empfehlungen zum Schluss, politische Konzepte zu historisieren, Konstitutionalisierung nicht als kontinuierliche Lösung zu betrachten und die eigene Sprache sowie Standpunkte kritisch zu reflektieren, können als wissenschaftliche Nüchternheit verstanden werden, sie hinterlassen aber wenige politisch-normative Anregungen für eine durchaus relevante Debatte, die genau danach verlangt. Trotz dieser Kritikpunkte liefert Manows Werk zentrale Impulse für die gegenwärtige Krisendebatte unserer Demokratie, insbesondere mit dem wichtigen Weckruf, die Institutionenvergessenheit unserer heutigen Zeit und die historische Bedingtheit unserer liberalen Demokratie stärker denn je zu reflektieren.