1. Inhaltsangabe
In ihrem Werk Die Tyrannei der Minderheit: Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können, zeichnen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt ein alarmierendes Bild der demokratischen Erosion in den Vereinigten Staaten und analysieren die institutionellen Ursachen dieser Entwicklung. Bereits in der Einleitung betonen die Autoren, dass sich die USA in einer tiefgreifenden Legitimationskrise befinden, da zentrale demokratische Prinzipien zunehmend durch Minderheiteninteressen ausgehöhlt werden. Die Wahl des ersten Schwarzen demokratischen Senators Raphael Warnock in Georgia im Jahr 2021 werten Levitsky und Ziblatt als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, der jedoch unmittelbar vom Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 überschattet wurde (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 11–13). Der Kontrast zwischen dem historischen Fortschritt hin zu einer multiethnischen Demokratie und dem autoritären, antidemokratischen Rückfall bildet den Ausgangspunkt ihrer Analyse.
Im Anschluss an diese Einführung wenden sich die Autoren der grundlegenden Frage zu, warum das Akzeptieren von Wahlniederlagen eine so zentrale Bedeutung für stabile Demokratien besitzt. Dazu eröffnen sie ihre Argumentation mit einem historischen Beispiel aus Argentinien, um zu verdeutlichen, wie demokratische Niederlagen konstruktiv verarbeitet werden können. Die peronistische Partei verlor 1983 überraschend die Wahl, akzeptierte jedoch das Ergebnis und wandelte sich anschließend erfolgreich. Diese Haltung, das Akzeptieren von Niederlagen, sei grundlegend für funktionierende Demokratien (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 22–24).
Am Beispiel der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl von 1800, in der Thomas Jefferson gegen John Adams gewann, zeigen die Autoren, wie schwierig es ist, Macht freiwillig abzugeben, insbesondere, wenn sich politische Parteien als Garanten des Gemeinwohls betrachten (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 32).
Ein funktionierender Machtwechsel setzt nach Ansicht der Autoren zwei Bedingungen voraus: Erstens müsse die unterlegene Partei auf eine künftige Rückkehr an die Macht hoffen können; zweitens dürfe eine Wahlniederlage keine existentielle Bedrohung für die Gesellschaft darstellen. Anhand historischer Beispiele, etwa aus dem Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik, verdeutlichen sie, dass Parteien sich gegen Demokratie wenden können, wenn sie ihre gesellschaftliche Stellung in Gefahr sehen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 30–34).
Diese Verlustangst sei eine zentrale Triebkraft für autoritäre Rückschläge. Der Fall Thailand zeigt, wie selbst eine ursprünglich prodemokratische Partei zur Ablehnung demokratischer Regeln übergeht, wenn sie ihren Einfluss schwinden sieht. Levitsky und Ziblatt argumentieren, dass die Angst vor Statusverlust und der Wunsch nach Machterhalt etablierte Parteien dazu bringen können, demokratische Normen zu unterminieren (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 40–43).
Aufbauend auf dieser Diagnose demokratischer Rückzugsbewegungen vertiefen die Autoren ihre Analyse im folgenden Abschnitt, in dem sie sich der inneren Aushöhlung demokratischer Systeme widmen. Dabei zeigen sie, dass Demokratien nicht nur durch offene Umstürze, sondern häufig durch eine stillschweigende Unterstützung autoritärer Kräfte im Inneren geschwächt werden. Am Beispiel des Aufstands vom 6. Februar 1934 in Frankreich verdeutlichen sie, wie konservative Politiker nicht nur den Angriff relativierten, sondern aktiv dazu beitrugen, die Demokratie zu untergraben (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 45–50). Im Zentrum steht die Unterscheidung zwischen loyalen und halbloyalen Demokraten, letztere geben sich demokratisch, tolerieren aber antidemokratische Akteure in den eigenen Reihen oder kooperieren indirekt mit ihnen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 52–59). Dadurch erhalten Extremisten Rückhalt, Normalität und politische Legitimität.
Die Autoren führen außerdem das Konzept der „harten Verfassungsbandagen“ ein. Verfassungsregeln werden dabei legal, aber strategisch missbraucht, um politische Gegner auszuschalten oder Macht dauerhaft zu sichern, etwa durch Notstandsgesetze, selektive Gesetzesanwendung oder institutionelle Umbauten (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 66–69). Die schleichende Zersetzung demokratischer Normen durch Opportunismus und die Normalisierung autoritärer Praktiken beschreiben sie als die eigentliche „Banalität des Autoritarismus“ (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 61).
Nach dieser theoretisch fundierten Analyse autoritärer Dynamiken richten Levitsky und Ziblatt ihren Blick auf ein konkretes historisches Beispiel innerhalb der Vereinigten Staaten. Sie analysieren die Geschichte von Wilmington, North Carolina, um zu zeigen, dass auch in den USA ein autoritärer Rückschlag demokratischer Entwicklungen möglich und historisch real war. In den 1890er-Jahren entstand dort unter einer republikanisch-populistischen Koalition eine funktionierende, wenn auch fragile multiethnische Demokratie, in der Schwarze politische Ämter innehatten und aktiv am wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Leben teilnahmen. Diese Entwicklung löste massiven Widerstand weißer Eliten aus. Unterstützt von der Demokratischen Partei organisierten sie 1898 eine gezielte Kampagne aus rassistischer Hetze, Einschüchterung, Wahlbetrug und Gewalt, um die „weiße Vorherrschaft“ wiederherzustellen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 79–81). Am 10. November 1898 eskalierte diese Entwicklung in einem gewaltsamen Putsch, bei dem ein bewaffneter Mob das Rathaus stürmte, schwarze Institutionen zerstörte und zahlreiche Afroamerikaner ermordete oder zur Flucht zwang (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 84–87). Im Anschluss verfestigten die Demokraten die rassistische Ordnung durch Wahlrechtsbeschränkungen wie Kopfsteuern, Lesetests und „Großvaterklauseln“, was zum Ausschluss fast aller Schwarzen vom politischen Leben führte. Das Massaker von Wilmington rekonstruieren die Autoren als gewaltsamen Bruch mit einem demokratischen Aufbruch, der das Scheitern einer multiethnischen politischen Ordnung markiert (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 101).
Vor dem Hintergrund dieser historischen Rückschläge analysieren Levitsky und Ziblatt anschließend die gegenwärtige Entwicklung innerhalb einer der beiden großen US-Parteien. In ihrer Betrachtung der Republikanischen Partei beschreiben sie deren Transformation von einer gemäßigten konservativen Kraft hin zu einer zunehmend autoritären Bewegung. Während sie in den 1960er-Jahren noch aktiv zur Verabschiedung von Bürgerrechtsgesetzen beitrug, entwickelte sich die Partei infolge der gesellschaftlichen Liberalisierung zu einer politischen Heimat weißer, evangelikaler und zunehmend radikalisierter Wähler. Mit der Southern Strategy setzte die Partei auf die Mobilisierung weißer Ressentiments, was langfristig mit einer Ablehnung der multiethnischen Demokratie einherging (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 114–117, 132). Versuche parteiinterner Reformen, etwa die sogenannte „Autopsie“ nach der Wahlniederlage 2012, blieben wirkungslos und scheiterten am Widerstand der radikalisierten Basis (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 125).
Spätestens mit Donald Trump übernahm ein populistisch-extremer Flügel die Führung, der Wahlergebnisse offen infrage stellte, politische Gewalt tolerierte und keine klare Distanz zu extremistischen Gruppen wahrte (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 140–143). Diese Entwicklung verstehen die Autoren als einen Wendepunkt, an dem zentrale demokratische Grundnormen wie die Anerkennung von Wahlergebnissen, die Ablehnung politischer Gewalt und die Abgrenzung gegenüber antidemokratischen Akteuren aufgegeben wurden.
Nach der parteipolitischen Analyse wenden sich die Autoren erneut den institutionellen Grundlagen der US-Demokratie zu. Sie zeigen, wie in den USA demokratische Entscheidungsprozesse zunehmend durch institutionelle Hürden blockiert werden. Ausgangspunkt ist das Urteil Shelby County v. Holder (2013), durch das der Oberste Gerichtshof zentrale Schutzmechanismen des Wahlrechtsgesetzes von 1965 aufhob. In der Folge wurden in mehreren Bundesstaaten Wahlrechtsverschärfungen eingeführt, die vor allem nicht-weiße Wähler benachteiligten (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 156 f.).
Die Autoren argumentieren, dass demokratische Institutionen zwar Minderheitenrechte schützen müssen, zugleich aber funktionierende Mehrheiten ermöglichen sollten. Die Filibuster-Regel im US-Senat, das Wahlmännerkollegium, ein unverhältnismäßig zusammengesetzter Senat und die lebenslangen Richterämter führen jedoch dazu, dass eine politische Minderheit stabile Mehrheiten dauerhaft blockieren kann (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 165, 172). Diese Mechanismen begünstigen nicht nur politische Blockaden, sondern gefährden nach Ansicht der Autoren den Mehrheitscharakter demokratischer Entscheidungsfindung.
Levitsky und Ziblatt kritisieren, dass viele dieser nichtmajoritären Institutionen ursprünglich nicht Teil eines konsistenten demokratischen Plans waren, sondern auf historische Kompromisse zurückgehen, etwa zur Absicherung der Sklaverei oder zur Beschwichtigung kleiner Bundesstaaten (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 173–178). Ihre Kritik kulminiert in der These, dass nicht eine Übermacht demokratischer Mehrheiten, sondern ihre systematische Begrenzung die größere Gefahr für das politische System der Vereinigten Staaten darstellt. Die Autoren schließen das Kapitel mit der Feststellung, dass in den USA weniger eine Tyrannei der Mehrheit, sondern vielmehr eine Tyrannei institutionell gestützter Minderheiten die Demokratie gefährdet (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 189).
Diese Argumentation führen die Autoren im darauffolgenden Abschnitt weiter, indem sie die strukturelle Verzerrung des amerikanischen politischen Systems zugunsten einer parteilichen Minderheit analysieren. Sie argumentieren, dass die Vereinigten Staaten zunehmend in eine Form der Minderheitsherrschaft abgleiten, in der eine Partei wiederholt Wahlsiege einholt, obwohl sie weniger Stimmen erhält und nur eine Minderheit der Wählerschaft hinter sich hat und zentrale Institutionen kontrolliert (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 194).
Historisch gewachsene, nichtmajoritäre Institutionen wie der Senat, das Wahlmännerkollegium, das Mehrheitswahlrecht auf Bundesstaatsebene sowie die lebenslange Amtszeit der Obersten Richter begünstigen vor allem ländliche, konservative Staaten und verzerren damit den demokratischen Wettbewerb systematisch zugunsten der Republikanischen Partei (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 193, 196–203). Diese institutionellen Asymmetrien führen laut den Autoren dazu, dass grundlegende politische Entscheidungen, etwa zur Waffengesetzgebung, zur Abtreibung oder zur Erhöhung des Mindestlohns, nicht im Einklang mit der Mehrheitsmeinung getroffen werden (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 212–216).
Infolgedessen gerät der demokratische Rückkopplungsmechanismus ins Wanken, der Parteien normalerweise zur Mäßigung zwingt. Die Republikanische Partei könne somit ihren zunehmend extremistischen Kurs beibehalten, ohne für die im fehlenden popular vote zum Ausdruck kommende, nicht bestehende Mehrheitsfähigkeit politisch durch Wahlniederlagen haften zu müssen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 218–222). Levitsky und Ziblatt schließen daraus, dass die ursprünglich zum Schutz von Minderheiten geschaffenen Institutionen, in ihrer heutigen Funktionsweise, eine strukturelle Verzerrung erzeugen, die autoritäre Tendenzen begünstigen und damit selbst zur demokratiegefährdenden Kraft wird (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 225).
Im Anschluss an die institutionelle Analyse innerhalb der Vereinigten Staaten erweitern Levitsky und Ziblatt ihre Perspektive und betrachten die USA im internationalen Vergleich. Sie analysieren das Land als demokratischen Sonderfall, der sich in wesentlichen institutionellen Aspekten von anderen westlichen Demokratien unterscheidet. Während viele westliche Demokratien ihre tradierten Institutionen in Teilen reformierten oder abschafften, verharrte das US-amerikanische Regierungssystem weitgehend in seiner ursprünglichen Struktur. Vor allem in den letzten 50 Jahren blieben Reformen aus. Diese institutionelle Trägheit wird laut den Autoren vor allem durch die extreme Änderungsresistenz der US-Verfassung verursacht.
Ihre Reform ist an hohe verfassungsrechtliche Hürden geknüpft, was dazu geführt hat, dass zentrale Reformvorhaben, wie etwa die Einführung der Direktwahl des Präsidenten oder der Gleichberechtigungszusatz zur Verankerung der Frauenrechte, trotz breiter politischer und gesellschaftlicher Mehrheiten am Widerstand strukturell bevorteilter Minderheiten scheiterten. In der Folge, so argumentieren Levitsky und Ziblatt, habe sich der einstige Vorreiter demokratischer Innovation in einen institutionellen Nachzügler verwandelt, mit einer Verfassungsordnung, die Minderheitsherrschaft eher zementiert als einschränkt (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 246–253).
Vor dem Hintergrund dieser Diagnose entwerfen die Autoren zum Abschluss ihres Werkes konkrete Vorschläge für eine demokratische Erneuerung. In Kapitel 8 plädieren sie für eine umfassende Demokratisierung der amerikanischen Institutionen als Antwort auf die gegenwärtige Krise. Das Ziel sei der Aufbau einer stabilen, multiethnischen Demokratie, ein historisch beispielloses Unterfangen, das durch institutionell verankerten Gegenmajoritarismus bedroht ist.
Neben kurzfristigen Strategien wie der parteiübergreifenden Eindämmung autoritärer Kräfte und der Anwendung wehrhafter Demokratie fordern die Autoren tiefgreifende institutionelle Reformen, um die Regierungsfähigkeit demokratischer Mehrheiten und die Repräsentationslogik des politischen Systems wiederherzustellen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 255–261).
Konkret schlagen sie Reformen in drei Bereichen vor: Erstens müsse das Wahlrecht verfassungsrechtlich garantiert und zugleich durch strukturelle Erleichterungen gestärkt werden. Zweitens sollten Wahlergebnisse zuverlässig dem Mehrheitswillen entsprechen, was etwa durch die Abschaffung des Wahlmännerkollegiums, die Einführung von Verhältniswahlrecht und die Einrichtung unabhängiger Wahlkommissionen erreicht werden könne. Drittens sei die Macht regierender Mehrheiten zu stärken, u. a. durch die Abschaffung des Filibusters und eine zeitliche Begrenzung der Amtszeiten von Richtern des Supreme Court.
Diese Maßnahmen seien aus Sicht der Autoren weder revolutionär noch utopisch, sondern orientierten sich an längst etablierten Standards vergleichbarer Demokratien (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 263–268). Langfristig seien institutionelle Veränderungen jedoch nur durch breite gesellschaftliche Bewegungen möglich, wie historische Beispiele, etwa das Frauenwahlrecht oder die Bürgerrechtsbewegung, zeigen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 275–282).
Die Demokratisierung der amerikanischen Institutionen, so schließen Levitsky und Ziblatt, sei letztlich eine Generationenaufgabe, diese erfordere politischen Druck, kollektive Vorstellungskraft und das langfristige Engagement einer breiten Zivilgesellschaft, um die Idee einer inklusiven Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 287–291).
2. Kontextualisierung
Levitsky und Ziblatt kontextualisieren ihre Analyse durch internationale Vergleichsperspektiven, in denen sie die strukturelle Reformfähigkeit liberaler Demokratien thematisieren. Sie zeigen etwa, dass zentrale Institutionen der US-Verfassung wie das Wahlmännerkollegium oder die Zusammensetzung des Senats in anderen Demokratien, etwa in Norwegen, Deutschland oder Neuseeland, abgeschafft oder reformiert wurden (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 233–248). Die USA seien hingegen zu einem „internationalen Nachzügler“ geworden, was auf kulturelle Verfassungstreue und extreme institutionelle Trägheit zurückzuführen sei (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 271 f.).
Zudem zeigen die Autoren, dass sich neben der wissenschaftlichen Debatte auch vielfältige außerwissenschaftliche Diskurse mit der Reform der amerikanischen Demokratie befassen. Sie greifen etwa zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Black Voters Matter, March for Our Lives oder Mormon Women for Ethical Government auf, die sich für Wählerregistrierung, Wahlrechtsreformen und institutionelle Veränderungen einsetzen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 283–286). Auch außerwissenschaftliche Institutionen wie das Brennan Center for Justice oder das Center for American Progress werden als Quellen für konkrete Reformvorschläge angeführt. Sie plädieren u.a. für eine Reform des Präsidentenwahlsystems, Maßnahmen gegen das parteipolitische motivierte Gerrymandering, also die gezielte Manipulation von Wahlkreisgrenzen (vgl. Abb. 1), sowie für eine Ausweitung des Wahlrechts (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 270). Insgesamt vermittelt das Buch damit eine Verbindung zwischen politikwissenschaftlicher Vergleichsanalyse und aktuellen gesellschaftlichen Debatten zur Zukunft der amerikanischen Demokratie.
Bereits in ihrem vorherigen Werk Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können (2018) haben Levitsky und Ziblatt zentrale Gefährdungen demokratischer Ordnungen beschrieben, insbesondere die Erosion demokratischer Normen wie gegenseitige Toleranz und institutionelle Zurückhaltung (vgl. Levitsky & Ziblatt 2018: 17 f.).
Die Stabilität demokratischer Ordnungen ist nach ihnen dann gefährdet, wenn Parteien oder andere zentrale Akteure es unterlassen, sich klar von solchen Kräften zu distanzieren, die eben diese demokratischen Normen missachten. Levitsky und Ziblatt entwickeln in diesem Zusammenhang ein Kriterienraster zur Identifikation autoritärer Tendenzen. Politische Akteure mit autokratischem Profil zeichnen sich demnach typischerweise durch vier Merkmale aus: Erstens lehnen sie grundlegende demokratische Spielregeln ab; zweitens sprechen sie ihren politischen Gegnern die Legitimität ab; drittens befürworten oder dulden sie politische Gewalt; und viertens zeigen sie eine Bereitschaft, Freiheiten von Opponenten einzuschränken (vgl. Levitsky & Ziblatt 2018: 31–34).
Die Tyrannei der Minderheit knüpft hieran an, verlagert den Fokus jedoch stärker auf strukturelle Ursachen demokratischer Rückschritte innerhalb der US-Verfassungsordnung. Während Wie Demokratien sterben primär akteurszentrierte Erklärungsansätze in den Mittelpunkt stellte, rücken im neuen Werk institutionelle Arrangements und deren langfristige Wirkungen auf demokratische Repräsentation ins Zentrum. Diese Perspektivverschiebung erlaubt es den Autoren, die gegenwärtige Krise nicht nur als Ergebnis normativer Erosion, sondern als Ausdruck historisch gewachsener, systemischer Asymmetrien zu begreifen. Zwar ordnen Levitsky und Ziblatt ihre Analyse keiner spezifischen demokratietheoretischen Schule zu, doch lässt sie sich insgesamt als strukturanalytisch verstehen. Sie zeigen, wie vormoderne Institutionen den politischen Wettbewerb verzerren und demokratische Mehrheitsentscheidungen systematisch blockieren (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 201, 247 f.; Levitsky & Ziblatt 2018). Diese strukturelle Verzerrung wird im Werk exemplarisch durch eine Gegenüberstellung majoritärer und nichtmajoritärer Institutionen und Elemente verdeutlicht (vgl. Tab. 1). Dabei gelingt es den Autoren, den Begriff des Gegenmajoritarismus analytisch zu differenzieren. Während institutionelle Schranken wie die Bill of Rights legitimerweise den Schutz individueller Grundrechte gegenüber der Mehrheit sichern, kritisieren sie dezidiert jene Mechanismen, etwa das Wahlmännerkollegium oder den disproportional zusammengesetzten Senat, die nicht dem Schutz von Minderheitenrechten, sondern der strukturellen Bevorzugung spezifischer Bevölkerungsgruppen dienen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 170–172).
Ihre Perspektive ist dabei historisch und verfassungspolitisch informiert. Sie zeigen, dass diese Institutionen nicht Ausdruck rationaler demokratischer Planung seien, sondern das Ergebnis politischer Kompromisse im Interesse sklavenhaltender oder kleiner Bundesstaaten (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 170–175, 264). Aus demokratietheoretischer Sicht kritisieren die Autoren, dass diese überkommenen Strukturen nicht auf Repräsentation nach dem Mehrheitsprinzip ausgerichtet sind, sondern systematisch eine Minderheit privilegieren, mit weitreichenden Folgen für die politische Entwicklung des Landes.
Im Gegensatz zu normativ aufgeladenen Erklärungsansätzen, die demokratische Erosion auf moralischen Verfall oder kulturelle Polarisierung zurückführen, analysieren Levitsky und Ziblatt die Krise als Ergebnis langfristiger institutioneller Verzerrungen. Sie argumentieren, dass diese es der Republikanischen Partei ermöglichen, zentrale politische Macht auszuüben, ohne Wählermehrheiten zu gewinnen. Dies untergrabe den demokratischen Wettbewerbsmechanismus und senke den Anreiz zur parteiinternen Mäßigung, was langfristig extremistische Tendenzen begünstige (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 221).
Überraschend ist, dass zentrale demokratische Institutionen nicht als Rettungsanker erscheinen, sondern selbst als Risikofaktor, eine Umkehr der klassischen Erwartung, dass Verfassungen Demokratie schützen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 165, 172, 189). Damit liefert das Werk nicht nur eine Analyse amerikanischer Verhältnisse, sondern stellt auch grundlegende demokratietheoretische Prämissen infrage.
Das Buch richtet sich nicht nur an ein akademisches Publikum, sondern explizit auch an eine politisch interessierte Öffentlichkeit. Die Sprache ist argumentativ und historisch fundiert, bleibt aber auch für Leser ohne politikwissenschaftliche Vorbildung zugänglich. Die Autoren arbeiten mit zahlreichen Beispielen aus der US-amerikanischen Geschichte sowie internationalen Vergleichsperspektiven, um die institutionelle Verzerrung demokratischer Repräsentation zu verdeutlichen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 201, 247 f.). So betonen sie, dass die Vereinigten Staaten mit bestimmten institutionellen Sonderregelungen weltweit einzigartig sind, etwa hinsichtlich der Präsidentenwahl, der Richterernennung oder der Senatszusammensetzung.
Darüber hinaus adressieren sie zivilgesellschaftliche Akteure, politische Entscheidungsträger und die mediale Öffentlichkeit. Sie heben hervor, dass demokratische Erneuerung nicht allein durch institutionelle Reformen von oben zu erreichen sei, sondern ein langfristiges Engagement der Gesellschaft erfordere. Sie verweisen dabei auf soziale Bewegungen, insbesondere von jungen Menschen und Minderheitenvertretern, die gezielt Wählerregistrierung fördern, gegen Wahlrechtsverschärfungen vorgehen oder sich für eine inklusive, multiethnische Demokratie einsetzen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 284–287). Besonders die junge Generation wird direkt angesprochen. Sie sei, so Levitsky und Ziblatt, „die Generation, die die multiethnische Demokratie in Amerika festigen wird“. Daraus ergibt sich ein doppelter Anspruch des Buches: Es versteht sich nicht nur als wissenschaftliche Analyse, sondern auch als Beitrag zur demokratischen Bildungsarbeit und Mobilisierung. Es ist in diesem Sinne sowohl analytischer Befund als auch politisches Plädoyer für eine demokratische Reformbewegung in den Vereinigten Staaten.
Ein Blick auf die Rezeption des Werkes in wissenschaftlichen wie publizistischen Kontexten verdeutlicht seine Relevanz für die demokratietheoretische Debatte. So würdigt Matthias Kolb in der Süddeutschen Zeitung das Werk als eindringlichen Weckruf für eine überfällige Reformdiskussion in den USA. Besonders hebt er die präzise Kritik an den institutionellen Verzerrungen des politischen Systems sowie den Reformwillen der Autoren hervor, etwa hinsichtlich der Direktwahl des Präsidenten oder der Begrenzung der Amtszeiten am Supreme Court (vgl. Kolb 2024).
Auch Mary Jo Murphy betont in ihrer Rezension für die Washington Post die analytische Schärfe, mit der Levitsky und Ziblatt die strukturelle Obsoleszenz der US-Verfassung herausarbeiten. Die Autoren zeigten überzeugend, dass der autoritäre Rückschritt in den USA nicht trotz, sondern gerade wegen der Verfassung möglich geworden sei (vgl. Murphy 2023).
In der Fachzeitschrift Foreign Affairs ordnet der Politikwissenschaftler Gilford John Ikenberry das Buch in den Kontext der vergleichenden Demokratieforschung ein. Er interpretiert die institutionellen Blockaden in den USA als Ausdruck eines vormodernen Ordnungsverständnisses, das im Widerspruch zur gesellschaftlichen Pluralisierung steht (vgl. Ikenberry 2024: 180).
Auch in wissenschaftlicher Sekundärliteratur wird das Werk breit rezipiert. So analysiert Molly Shewan in The Review of Democracy die strukturellen Demokratiedefizite der US-Verfassung entlang der Argumente von Levitsky und Ziblatt und hebt dabei die ungleiche Repräsentation im Senat sowie das Wahlmännerkollegium als zentrale Problemfelder hervor (vgl. Shewan 2024).
Corey Robin weist in seinem Beitrag in The New Yorker darauf hin, dass Levitsky und Ziblatt in Tyranny of the Minority nicht länger demagogische Akteure als Hauptgefahr für die Demokratie sehen, sondern die demokratiehemmenden Institutionen selbst, etwa den Senat, das Wahlmännerkollegium oder das Filibuster-Verfahren. Besonders bemerkenswert sei dabei der Wandel der Autoren, die nun genau jene politischen Instrumente in Frage stellen, die sie in früheren Arbeiten noch zur Verteidigung der Demokratie empfohlen hatten (vgl. Robin 2023). Selbst im Wikipedia-Eintrag zu „Democratic Backsliding in the United States“ werden zentrale Aussagen von Tyranny of the Minority zitiert, insbesondere zur Reformunfähigkeit der US-Verfassung und zur systemischen Verzerrung demokratischer Mehrheitsverhältnisse (vgl. Wikipedia 2025).
Die breite und vielschichtige Rezeption belegt, dass Levitsky und Ziblatt nicht nur eine Diagnose der US-Demokratie liefern, sondern einen diskursprägenden Beitrag zur internationalen Debatte über die strukturellen Grundlagen moderner Demokratien leisten.
Levitsky und Ziblatt betten Die Tyrannei der Minderheit zugleich in den historischen Kontext der politischen und institutionellen Krise nach der Präsidentschaftswahl von 2020 ein. Der Ausgangspunkt des Buches ist ein dramatischer politischer Kontrast, der Wahlsieg des ersten Schwarzen demokratischen Senators Raphael Warnock in Georgia wird als Zeichen eines gesellschaftlichen Wandels hin zu einer inklusiveren Demokratie gedeutet, jedoch unmittelbar vom Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 überschattet, ein Ereignis, das die Autoren als autoritären Rückschlag charakterisieren (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 11–14).
Zugleich verweisen die Autoren auf die beispiellose Weigerung eines amtierenden Präsidenten, seine Wahlniederlage anzuerkennen, sowie auf die institutionelle Duldung und parteipolitische Absicherung des Angriffs durch führende Vertreter der Republikanischen Partei. Die Autoren stellen fest, dass die Republikanische Partei gegen alle drei Grundprinzipien demokratischen Verhaltens verstoßen habe: sie habe das Wahlergebnis nicht akzeptiert, Gewalt relativiert und sich nicht von antidemokratischen Akteuren distanziert (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 152).
Vor dem Hintergrund der politischen Verwerfungen zwischen November 2020 und Januar 2021 lässt sich das Buch als direkte Reaktion auf die demokratische Krise dieser Zeit lesen. Die institutionellen Schwächen der US-Verfassung, die Radikalisierung der Republikanischen Partei und ein kulturell tief verankerter Verfassungspatriotismus verbinden sich aus Sicht der Autoren zu einer gefährlichen Mischung. Die demokratische Krise wird dabei nicht als plötzliches Ereignis, sondern als Ergebnis historischer Pfadabhängigkeiten und systemischer Fehlentwicklungen analysiert.
3. Kritische Würdigung
Levitsky und Ziblatt formulieren in Die Tyrannei der Minderheit einen dezidierten Anspruch. Sie wollen nicht nur ein analytisches Erklärungsmodell für die gegenwärtige Krise der US-Demokratie entwickeln, sondern zugleich politische Aufmerksamkeit für die strukturellen Ursachen demokratischer Erosion schärfen. Dieser Doppelanspruch, Analyse und Appell, ist durchgängig im Werk erkennbar. Das Buch erfüllt diesen Anspruch weitgehend, weil es sowohl auf empirischer als auch auf normativer Ebene konsistent argumentiert und dabei eine ungewöhnlich breite Leserschaft adressiert. Die Autoren verbinden die präzise Darstellung institutioneller Mechanismen mit einem demokratiepolitischen Anliegen, ohne dabei an analytischer Schärfe zu verlieren. Gerade die Fähigkeit, die Funktionsweise vormoderner Institutionen, etwa des Wahlmännerkollegiums oder des Senats, als systemische Hindernisse demokratischer Repräsentation zu rekonstruieren, verdeutlicht, dass das Werk seinem selbst gesetzten Ziel in hohem Maße gerecht wird (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 201, 247 f.).
Auch die Argumentationsstruktur des Buches überzeugt weitgehend. Die einzelnen Thesen werden schrittweise entwickelt, mit historischen und aktuellen Beispielen belegt und in eine vergleichende Perspektive eingebettet.
So zeigen die Autoren etwa auf, dass viele Elemente des US-Verfassungssystems nicht das Ergebnis rationalen Demokratiedesigns sind, sondern historisch bedingte Kompromisse darstellen, die etwa den Interessen sklavenhaltender oder kleiner Bundesstaaten geschuldet waren (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 170–175, 264). Die These der institutionellen Verzerrung wird dabei nicht isoliert formuliert, sondern aus einer historischen Entwicklungsperspektive heraus begründet und mit internationalen Vergleichsfällen kontrastiert. Allerdings wäre an einzelnen Stellen eine stärkere methodische Explikation hilfreich gewesen. Zwar ist die empirische Grundlage durchgängig plausibel, doch bleibt der methodische Zugriff, etwa auf Fallauswahl, Vergleichskriterien oder den Umgang mit Gegenbeispielen, implizit. Besonders bei der Gegenüberstellung der US-amerikanischen Demokratie mit anderen liberalen Demokratien wie Deutschland, Kanada oder Großbritannien wird deutlich, dass die Autoren auf breites Wissen zurückgreifen, ohne dieses jedoch systematisch als Forschungsdesign auszuweisen (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 227–248). Dennoch leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der aktuellen Verfassungskrise in den USA. Indem Levitsky und Ziblatt aufzeigen, wie tiefgreifend vormoderne, nichtmajoritäre Institutionen in die demokratische Willensbildung eingreifen, lenken sie den Blick weg von bloßen Symptombeschreibungen hin zu strukturellen Ursachen. Der Fokus auf die systematische Überrepräsentation ländlicher, weißer Minderheiten im Senat und im Wahlmännerkollegium erweitert das Verständnis politischer Ungleichheit in den Vereinigten Staaten (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 221, 247 f.). Dabei gelingt es den Autoren, die institutionellen Mechanismen nicht nur analytisch zu beschreiben, sondern auch deren politische Wirkung plausibel darzustellen, etwa mit Blick auf die Schwächung parteiinterner Mäßigung oder die Radikalisierung der Republikanischen Partei. Das Werk trägt so zu einer fundierten Auseinandersetzung mit den strukturellen Gefährdungen demokratischer Systeme bei und liefert Denkanstöße, die über den konkreten US-Kontext hinausgehen.
Besonders hervorzuheben ist, dass das Buch anschlussfähige Einsichten für verschiedene Lesergruppen bietet. Für die politikwissenschaftliche Fachdebatte liefert es eine empirisch gehaltvolle Diagnose institutioneller Blockaden, die mit demokratietheoretischen Fragestellungen verbunden werden können. Für die politische Öffentlichkeit fungiert es als verständlich formuliertes Plädoyer für Reformen, das dennoch auf analytischer Tiefe beruht. Die Einbindung gesellschaftlicher Akteure und Bewegungen, etwa Black Voters Matter, March for Our Lives oder Voters for Tomorrow, erweitert den analytischen Rahmen um gesellschaftliche Handlungsperspektiven (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 284–287). Diese Verknüpfung von institutioneller Analyse und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung macht die Anschlussfähigkeit des Buches sowohl im akademischen als auch im politischen Raum aus. Im Spektrum aktueller demokratietheoretischer Literatur, das von normativ-theoretischen Auseinandersetzungen, wie Philip Manows Unter Beobachtung: Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde (2024) oder Veith Selks Demokratiedämmerun: Eine Kritik der Demokratietheorie (2023) reicht, letzteres mit einer besonders dezidierten Kritik an der Demokratietheorie selbst, über empirisch-analytische Studien wie Pippa Norris In Praise of Skepticism: Trust but Verify (2022), bis hin zu essayistisch-journalistischen Beiträgen wie Anne Applebaums Die Achse der Autokraten: Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten (2024), gelingt Levitsky und Ziblatt eine bemerkenswerte Balance zwischen analytischer Tiefe und öffentlicher Zugänglichkeit.
Darüber hinaus lässt sich die Analyse als Beitrag zu einem breiteren demokratietheoretischen Diskurs verstehen. Sie legt offen, wie historische Institutionen in modernen Demokratien dysfunktional wirken können, ein Thema, das nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern auch für vergleichbare Verfassungsordnungen relevant ist.
Was das Werk von Levitsky und Ziblatt besonders anschlussfähig macht, ist sein Brückenschlag zwischen demokratietheoretischer Analyse, historisch fundierter Verfassungsdiagnose und öffentlichem Reformdiskurs. Statt sich einer etablierten demokratietheoretischen Schule zuzuordnen, entwickeln die Autoren einen eigenständigen Zugriff, der institutionelle Mechanismen nicht nur analytisch beschreibt, sondern auch als politisch wirksam entlarvt. Der Begriff der Tyrannei der Minderheit steht dabei für eine konzeptuelle Neupositionierung innerhalb der Demokratiedebatte: Er verschiebt den Fokus von der klassischen Warnung vor der „Tyrannei der Mehrheit“ hin zur strukturellen Bevorzugung dauerhaft dominanter Minderheiten. Diese Perspektive eröffnet neue Anschlussmöglichkeiten, etwa zur Frage, wie sich demokratische Legitimität unter Bedingungen institutioneller Verzerrung überhaupt noch sichern lässt. Indem das Werk historische und internationale Vergleichsperspektiven einbezieht und gleichzeitig eine realpolitisch fundierte Reformagenda formuliert, leistet es sowohl für die wissenschaftliche Diskussion als auch für den demokratiepolitischen Diskurs einen substanziellen Beitrag.
Insgesamt überzeugt auch die Komposition des Buches. Die klare Struktur, der argumentativ dichte Aufbau und die exemplarisch eingesetzten historischen Rückgriffe sorgen für ein hohes Maß an Nachvollziehbarkeit. Die Einleitung positioniert das Werk deutlich im historischen Kontext der Wahl 2020 und des 6. Januar 2021, was dem Werk eine politische Dringlichkeit verleiht (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 11–14). Der Schluss wiederum schlägt den Bogen zurück zur gesellschaftlichen Verantwortung und plädiert für eine „Verteidigung der multiethnischen Demokratie“, eine Forderung, die aus der vorangegangenen Analyse stringent entwickelt wird (vgl. Levitsky & Ziblatt 2024: 287 f.).
Die zentrale Pointe des Werks liegt letztlich in der Umkehr einer klassischen Erzählung. Nicht eine übermächtige Mehrheit bedroht die Demokratie, sondern ein institutionell gestützter Minderheitenvorteil. Damit richtet sich die Kritik nicht allein an politische Akteure, sondern an die strukturelle Beschaffenheit des Systems selbst, ein Befund, der weit über die Vereinigten Staaten hinaus demokratietheoretische Relevanz beanspruchen kann.
Auch wenn methodische Reflexion und theoretische Verortung teils unterbelichtet bleiben, handelt es sich um ein in sich geschlossenes, kohärentes und in seiner argumentativen Wucht überzeugendes Werk.
Literaturverzeichnis
Applebaum, Anne (2024): Die Achse der Autokraten: Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten, München: Siedler Verlag.
Duignan, Brian (2025): Gerrymandering Politics, [online] [Zugriff: 14.04.2025].
Kolb, Matthias (2024): Politisches Buch „Die Tyrannei der Minderheit“: Die US-Verfassung ist das Problem, [online] [Zugriff: 14.04.2025].
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