In publica commoda

WS 2005/06 Mi 11-13, Beginn: 19.10.2005


Literatur nach der Katastrophe – deutsche Nachkriegstexte und
post-maoistische Literatur als Lektüre im Fremdsprachenunterricht

Die Erkenntnis des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (+ Buchenwald, 1945), dass Gedächtnis immer sozial bedingt ist, haben Aleida und Jan Assmann weiterentwickelt und den Begriff des zeit- und raumüberschreitenden "kulturellen Gedächtnisses" geprägt. "Gedächtnis" ist, was innerhalb einer Gruppe an Sinn zirkuliert und damit wesentlicher Bestandteil für die Konstruktion kollektiver Identitäten. Der Zusammenhang zwischen Literatur und Gedächtnis erweist sich als aufschlussreich für ein Verstehen der kulturhistorischen Rolle literarischer Texte im Speziellen und der Dynamik von Kultur im Allgemeinen.
Das Seminar ist der Auftakt eines größeren Projektes, das Literatur als wichtigen Bestandteil konstitutiver Erinnerungspraxis begreift und allgemein der Frage nachgeht, inwiefern es kulturübergreifende Formen literarischer Erinnerung und zwar sowohl in inhaltlich-thematischer als auch in formal-ästhetischer Hinsicht gibt? Inwiefern funktioniert Literatur als Reflex und Produzent von Erinnerung? Welches sind die literarischen Strategien des Erinnerns und des Vergessens? etc.
Vergleichbar der deutschen Trümmer- bzw. Kahlschlagliteratur, die nach dem II. Weltkrieg einsetzte, gibt es in der Volksrepublik China die so genannte Wunden- oder Narbenliteratur, die sich mit den katastrophalen Auswirkungen der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" (1966-76) beschäftigt. Beiden Literaturen gemeinsam ist sowohl ihre relative Kurzlebigkeit und schnelle Ausdifferenzierung in unterschiedliche literarische Richtungen als auch ihre unmittelbare Bezugnahme auf durchlebte und erinnerte traumatische Erfahrungen. Für beide Literaturen gilt, dass sie eine starke wechselseitige Rezeption, wie dies zuletzt um 1900 der Fall war, erfuhren. Heinrich Böll wurde in den späten 70er Jahren zu einem der meist gelesenen westlichen Autoren in der Volksrepublik China und die chinesische Trümmerliteratur wurde im Westen zum Aushängeschild des "neuen" China, das sich der Welt wieder zuwenden will. Nach einer zehn- bis fünfzehnjährigen Phase der Latenz setzen in beiden Kulturräumen Texte vermittelter Erinnerung der Nachgeborenen ein, die völlig anderen ästhetischen Verfahren folgen. Das Seminar konzentriert sich nach einer kurzen theoretischen Einführung schwerpunktmäßig auf die Lektüre und Analyse der ersten der genannten Textgruppen und nimmt die zweite nur perspektivisch in den Blick.

Die Liste der in Frage kommenden Texte ist nahezu unendlich. Die TeilnehmerInnen werden deshalb gebeten, mindestens einen Text ihrer Wahl (begründet) vorzuschlagen. Die chinesischen Texte liegen alle in Übersetzung vor.

Zur besseren Planung bitte ich um Voranmeldung unter: irmy.schweiger@phil.uni-goettingen.de

Vorläufige Literaturliste:

Mögliche Primärtexte:
Andersch, Alfred
Böll, Heinrich (1984) Werke. Köln: Lamuv Verlag und KiWi.
Borchert, Wolfgang (1984) Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß. Hamburg.
Häussler, Alexander (1994) Memory. F.a.M.: Fischer Verlag.
Hilsenrath, Edgar (1964) Nacht. München: Kindler Verlag.
Hilsenrath, Edgar (1977) Der Nazi und der Friseur. Köln: Literarischer Verlag Braun.
Klüger, Ruth (1994) Weiterleben. Eine Jugend. München: dtv.
Köppen, Wolfgang Aufzeichnungen aus einem Erdloch. /Tauben im Grass..
Liu Xinhua “Die Narbe” (1978).
Liu Xinwu “Der Klassenlehrer” (1977).
Liu Xinwu "Der Glücksbringer" (übers. Helmut Forster-Latsch) in Donat, Andreas (Hg.) Die Drachenschnur. Darmstadt.
Schnurre, Wolfdietrich
Shi Mo (1980) "Die Heimkehr des Fremden" (übers. von Barbara Spielmann) in Kubin, Wolfgang (Hg.) (1980) Hundert Blumen. F.a.M.
Wang Anyi
Wang Meng
Zhang Xianliang (1991) Getting Used to Dying. Translated by Martha Avery. New York, London: W.W. Norton & Company.

Theorie, Literaturwissenschaft, -geschichte:

Adorno, T.W. (1977), "Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? " in Adorno, T.W. (1977) Gesammelte Schriften, Bd. 10/2. F.a.M
Assmann, Jan Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck Verlag, 1997 (Auszug).
Braese, Stefan, Holger Gehle u.a. (Hg.) (1998) Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. F.a.M., N.Y.
Gänßbauer, Monika (1996) Trauma der Vergangenheit – Die Rezeption der Kulturrevolution und der Schriftsteller Feng Jicai. Dortmund: Projekt Verlag, 1996 (Auszug).
Harnisch, Thomas (1985) China’s neue Literatur. Schriftsteller und ihre Kurzgeschichten in den Jahren 1978 und 1979. Bochum.
Hu Zongjian "Trümmerliteratur und Wundenliteratur" in arcadia, Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 22, heft 2 (1987), S. 192-205.
Kahn-Ackermann, Michael (1979) China – Drinnen vor der Tür. F.a.M.
Li Qingxi "Searching for Roots. Anticultural Return in Mainland Chinese Literature of the 1980s" in Chi Pan-yuan and David Der-wei Wang eds. (2000) Chinese Literature and Culture in the Second Half of a Modern Century. Bloomington and Indianapolis: Indiana UP, S. 110-123.
Pohl, Karl-Heinz (1986) "Chinesische Literatur der achtziger Jahre" in Stimmen der Zeit, 111 (1986), S. 397-407.
Rössler, H. ()"Aspekte des Lernens und Lehrens an einer chinesischen Hochschule" in Müller, B. und G. Meuner (Hg.) Praxisprobleme im Sprachunterricht.
Schweiger, Irmy (2001) "Hunting Ghosts: The literary re-appearance of traumatic experiences in 20th Century China" (unpublished manuscript)
Schweiger, Irmy (2001) "The Inscription of Trauma in Literary Texts" (unpublished manuscript)
Schwarcz, Vera (1996) "The Burden of Memory: The Cultural Revolution and the Holocaust " in China Information, Vol. XI, Nr 1 (Summer), 1996, S. 1-13.
Schwarcz, Vera (1998) "A Brimming Darkness: The Voice of Memory/The Silence of Pain in China after the Cultural Revolution " in Bulletin of Concerned Asian Scholars, Vol. 30, Nr. 1 (1998), S. 46-54.
Weigel, Sigrid (1996) "Télescopage im Umbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur" in Bronfen, Elisabeth, Birgit E. Erdle und Sigrid Weigel eds. (1996) Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, S. 51-76.

Wu Liang (2000) "Re-membering the Cultural Revolution. Chinese Avant-garde Literature of the 1980s" in Chi Pan-yuan …, S. 124-136.
Zhang Xianliang (1986) "After Twenty Years of Silence We Lick our Wounds. Our Battle for a Place in World Literature" in Martin, Helmut and Jeffrey Kinkley (eds.) Modern Chinese Writers. Self Portrayals. Armonk, N.Y.: East Gate Book, M.E. Sharpe, S. 80-83.